Meeresblau
Wasser. In der Hoffnung, für diese Wesen unsichtbar zu sein, verbarg sie ihren Körper mit Tang und blieb regungslos, bis der lärmende Schatten vorbeigezogen war. Vermutlich fuhr es wie die meisten Touristenboote hinaus zu den Robbenbänken, um dort zu drehen und am Wasserfall vorbeizufahren, der sich unweit von hier eine Klippe hinabstürzte. Menschen! Da saßen sie in ihren schwimmenden Kästen und verstanden rein gar nichts von dem, was sie sahen.
Als das Boot vorbeigezogen war und sie zurück in die offene See schwimmen wollte, durchzuckte ein vertrautes Gefühl ihren Geist. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Er war ins Wasser gegangen. Ihr zukünftiger Gefährte. Der Mann, in dem die Hoffnung ihrer Rasse lag.
„Ich bin hier“, gab sie ihm zu verstehen. „Komm zu mir.“
Er antwortete nicht. Und er schwamm auch nicht weiter hinaus, sondern blieb in der geschützten Bucht. Endete ihr Zusammentreffen etwa wieder in einem Machtspiel?
„Komm“, flehte sie noch einmal, tauchte auf und durchstieß die Wasseroberfläche. Es schmerzte, als sie die Luft in ihre Lungen sog. Wie es immer wehtat, in die andere Welt einzudringen. Doch das war nichts gegen die Qual, die nur Augenblicke später über sie herfiel. Denn jetzt gab er ihr zu verstehen, weshalb er gekommen war.
Christopher wollte Abschied nehmen und ihr klarmachen, dass er noch heute fortgehen würde. Zusammen mit den Menschen. Sein Trotz war ihr nur allzu vertraut. Sie wusste kaum noch etwas von ihrem alten Leben, doch die Erinnerung an den Kampf zwischen See und Erde war eines der wenigen deutlichen Bilder, die sie sich bewahrt hatte.
„Tu das nicht. Du darfst nicht gehen. Bitte.“
Er hörte ihre lautlosen Worte, erwiderte sie aber nicht. Gepackt von Verzweiflung schwamm sie hinüber zur Bucht, passierte den Eingang und fand sich umringt von Felsen wieder. Das Gefühl des Gefangenseins übermannte sie. Dort oben war er. Ahnungslos und kurz davor, einen furchtbaren Fehler zu begehen.
Als sie dicht vor ihm das Wasser durchbrach, schrak er nicht zurück. Sein Gesicht war ohne jede Regung, in seinen Augen lag Entschlossenheit. Oh ja, er war stark, trotz des menschlichen Anteils in seinem Blut. Viel stärker als sie es sich je hätte träumen lassen. Umso furchtbarer würde es sein, wenn sie ihn verlor.
„Ich gehe.“ Seine Stimme war hart. „Ich weiß, was ich bin, und ich weiß, dass meinesgleichen Hilfe braucht. Als Mensch kann ich mehr für sie tun. In ein paar Tagen bin ich auf einem Schiff, das mich zu ihnen bringt.“
„Du gehst mit den Menschen auf ein Schiff? Du reist mit ihnen an das andere Ende der Welt?“
„Ja, das werde ich. Nur so kann ich dafür sorgen, dass sie den Graben nicht entdecken. Du kennst ihre Methoden nicht, ich schon. Man glaubt meinen Worten und dem, was ich tue.“
„Aber du verwandelst dich.“ Lange hatte sie sich nicht mehr so hilflos gefühlt, und das machte sie wütend. „Bald schon. Egal, wie sehr du dich wehrst. Wenn du die Menschen so gut kennst, dann weißt du auch, wie gefährlich sie sind. Komm mit mir. Dann bringe ich dich zu unserem letzten Versteck.“
„Nein“, beharrte er. „Ich tue, was du willst, aber auf meine Weise. Selbst wenn ich das Meer und die Stürme beherrsche, wird das die Menschen nicht aufhalten. Immer mehr werden kommen, mit immer besserer Technik. Ihre Gier ist unersättlich. Ich muss sie davon überzeugen, dass es nichts zu holen gibt. Nur so kann ich euch schützen.“
„Du unterschätzt die Macht deiner wahren Natur.“ Sie presste sich an ihn, schlang ihre Arme um seinen Hals und legte alle Verzweiflung in ihren Blick. Geschmeidig schlang sich ihr Fischschwanz um seine Beine. Sie wollte ihn festhalten, ihn verführen, doch er schien unempfindlich gegen eine Macht zu sein, die sonst jede Seele in die Knie zwang.
„Lass mich in Ruhe!“
Seine Stimme zerschnitt ihr Herz. Er riss sich los und schwamm zurück ans Ufer. Kaum verließ er das Wasser, verlor das Meer einen Teil seiner Kraft. Zurück blieb nur Trauer. Er hatte sich den schlechtesten Moment für seine Rebellion ausgesucht. Seine Verwandlung würde unter den Augen der Menschen geschehen, wenn er nicht schnell genug ein Versteck fand. Das Volk des Landes war zu keiner Zeit freundlich mit ihnen umgegangen, und heute, wo man nicht einmal den Ozean noch respektierte, zog eine Enttarnung gewiss noch schrecklichere Folgen nach sich. Er glaubte, dass sie aus reinem Besitzdenken handelte. Dass sie gefühllos war und
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