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Meereskuss

Meereskuss

Titel: Meereskuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virginia Kantra
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wegwünschen, als könnte sie alles wegwünschen und in das zurückverwandeln, was es gewesen war. Wie Dorothy, die nach dem Tornado aufwachte und entdeckte, dass alles nur ein schrecklicher Traum gewesen war. Ein Alptraum.
    Ihr Alptraum.
    Sie hatte immer vom Meer geträumt. Dem Meer und davon, dass sie darin ertrank. In ihren Träumen kam der Ozean sie holen, eine hungrige Wand aus Wasser, die alles fortspülte, alles zerstörte, jeden umbrachte, den sie liebte.
    Ihre Mutter war ertrunken.
»In dem Jahr, nachdem sie euch verlassen hatte, ist sie in ein Fischernetz geraten.«
    Das Meer nahm ihr alles.
    Druck baute sich in ihren Lungen auf. Sie konnte nicht atmen. Getöse erfüllte ihren Kopf, lauter als der Ozean. Das Geräusch des Verlusts. Der Angst.
    Sie zitterte.
Sie erinnerte sich …
    Daran, dass sie in der Wiege stand, im Dunkeln weinte und die Ärmchen ausstreckte. Dass Caleb, freundlich und schlaftrunken, hereingetrottet kam, um sie auf den Arm zu nehmen. Ein Junge, den die Umstände dazu zwangen, ein Mann zu sein. Er strich ihr über den Rücken, brachte ihr Wasser und flüsterte, dass alles gut werden würde. Damals hatte sie sich trösten lassen, nur um im Laufe der Jahre zu erkennen, dass ihr Leben nie wieder gut werden würde.
    Als sie neun war, zog Caleb fort, um aufs College zu gehen.
»Sei brav«,
sagte er.
»Pass auf dich und Dad auf.«
Und das tat sie, während die Träume zurückkehrten, nur schlimmer als zuvor. Sie konnte so tun, als hätte sie sie im Griff; sie zögerte sie hinaus, durch Bettlektüre, heiße Milch oder Sex, aber sie entkam ihnen nie ganz.
    Nun, allein vor dem leeren Kamin, legte sie ihre Arme um den Leib. Na und? Jeder hatte schlimme Träume. Sie war nicht mehr das kleine Mädchen, das nach seiner Mutter rief.
    Conn nannte sie die Tochter der Atargatis, aber sie war mehr. Sie war Caleb Hunters Schwester, geboren in Neuengland und eine zähe Yankeepflanze. So widerspenstig wie die Strandrosen, die an den Klippen blühten, und so beharrlich wie die Goldraute, die zwischen den Felsen spross. Sie hatte Inselwinter überstanden, in denen die Wasserleitungen und der Hafen zufroren und sich Eis auf den Stufen zur Veranda bildete, so dass es mit einer Axt weggehauen werden musste. Sie hatte sich in einem Haus ins Erwachsensein gekämpft, in dem der Geist ihrer Mutter umging und das Gespenst ihres trunksüchtigen Vaters.
    »Du bist stärker, als wir alle dachten«,
hatte Conn gesagt.
    Vielleicht.
    Ja.
    Ihr entschlüpfte ein zittriges Seufzen. Zeit, sich endlich auch so zu verhalten. Sie konnte anfangen, indem sie sich anzog. Irgendetwas in diesem Schrank musste ihr doch passen.
    Sie ging auf das Ungetüm zu. Die Schöne im Schloss des Biests. Nur zu schade, dass es hier keine freundlichen Geister gab, keine mütterlichen Teekannen, die ihr etwas zum Anziehen aussuchen konnten.
    Madadh hob den Kopf und spitzte die Ohren.
    Etwas polterte und schepperte unter ihnen.
    »Mist!«, rief eine Stimme auf der Treppe.
    Lucy fuhr zusammen und schlug sich eine Hand vor den Mund.
    »Pass doch auf! Du hättest mir fast die Finger abgerissen!« Eine zweite Stimme, jung, männlich, beleidigt.
    »Na, wenn du nicht so dämlich –«
    »Schsch. Sonst hört sie uns noch.«
    Der Hund bellte leise und kam auf die Beine. Seine großen Pfoten scharrten über den Steinboden.
    »Ich kann euch jetzt schon hören«, sagte Lucy.
    Schweigen.
    Und dann ein Kratzen. Ein Klopfen.
    »Ma’am?« Die Stimme war brüchig. Die Stimme eines Jungen, dachte sie.
    »Ich … Ja?«, antwortete sie.
    »Wir kommen nicht an dem Hund vorbei.«
    Klar. Madadh bewachte den Eingang, mit hoch gezogenen Schultern, gesenktem Kopf und wedelndem Schwanz. Ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Sie hatte nie einen Hund gehabt.
    »Äh, Madadh«, sagte Lucy und kam sich irgendwie albern vor. »Hierher, Junge.«
    Würde er gehorchen?
    Sie zwang sich zu einem autoritäreren Tonfall. »Madadh,
hierher

    Der schmale Kopf des Hundes wandte sich ihr zu. Langsam, ganz langsam folgten die hohen Hüften und der lang gestreckte Rumpf. Madadh tapste neben sie und machte polternd Sitz. Sein Kopf reichte ihr bis an den Ellenbogen.
    Sie legte die Hände eng um die Hüften. »Ihr könnt jetzt hereinkommen.«
    Ein Knurren, noch ein Poltern, und ein Mann oder vielmehr die Beine eines jungen Mannes erschienen, als er rückwärts über die Schwelle trat. Er trug das eine Ende eines großen Schrankkoffers. Sein Begleiter, der das andere Ende schleppte, folgte ihm

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