Meeresrauschen
was passiert
war, wagte ich kaum, an mir herunterzuschauen. Wie benommen
starrte ich gegen das mit weichen Pflanzen und schillernden
Muscheln überwucherte Riff und tat noch ein paar tiefe
Atemzüge, bevor ich meinen Blick schließlich langsam an meinem
Körper hinabgleiten ließ.
Bis zur Taille war alles noch so, wie ich es kannte. Rosige
zarte Haut spannte sich über einen schlanken Menschenleib,
auch mein Nabel saß an der gewohnten Stelle, doch nur wenige
Zentimeter darunter ging meine alte Haut in eine neue,
silbern schimmernde über. Anstelle meiner Beine und Füße
besaß ich nun einen glatten Fischschwanz, der in einer Doppelflosse
endete.
Ich wollte ein Keuchen ausstoßen, musste allerdings feststellen,
dass das unter Wasser gar nicht möglich war. Mein
Atem ging für ein paar Augenblicke ein wenig schneller, das
war alles.
Plötzlich packte mich die Furcht, dass mich jemand bei meiner
Verwandlung beobachtet haben könnte. Wie ertappt riss
ich den Kopf hoch und sah mich nach allen Seiten um. Ich
fühlte mich, als hätte ich etwas Verbotenes getan.
Die Unterwasserlandschaft war wunderschön, viel farbenprächtiger,
als ich sie mir vorgestellt hatte. Doch ich konnte
mich nicht daran erfreuen, dazu wirbelten zu viele Dinge
durch meinen Kopf. Ich brauchte jetzt einen sicheren Ort, an dem ich zu mir kommen, mich orientieren und meine Gedanken
ordnen konnte.
Und so glitt ich vorsichtig im Schutz des Riffs weiter nach
unten und suchte es nach einer Ausbuchtung, einem größeren
Vorsprung oder einer Höhle ab. Letztere fand ich nicht,
dafür jedoch eine Kuhle, die sich hinter einem hohen Felsen
verbarg, der mich von seiner Form her an einen uniformierten
Soldaten erinnerte. Hastig schlüpfte ich hinein und ließ mich
in einen weichen Algensitz sinken.
Meine Flosse wogte in der recht starken Strömung hin und
her, und ich spürte, dass ich über kräftige Muskeln verfügte,
die mühelos dagegenhalten konnten. Außerdem fiel mir auf,
dass ich ein Stück oberhalb, parallel zur Hauptflosse, noch
zwei weitere, kleinere Flossen besaß.
Zögernd fuhr ich mit den Fingerkuppen über die silberne
Haut. Von der Hüfte abwärts fühlte sie sich glatt an, als ich
meine Finger jedoch zurückbewegte, nahm ich einen sanften
Widerstand wahr, und bei genauerem Hinsehen bemerkte ich,
dass die Fischhaut aus unzähligen winzigen Schuppen bestand.
Das Meer hatte mich nicht getötet, es hatte mich verwandelt!
Aber welchen Grund, welchen Sinn hatte das? Warum
war es passiert – und wie hatte es überhaupt geschehen können?
Siebzehn Jahre lang war ich niemand anders als Elodie
Saller gewesen – wer aber war ich jetzt?
»Du bist immer noch Elodie Saller«, hörte ich Sina sagen.
»Wer sonst?«
Erleichtert schloss ich die Augen. Die Stimme meiner besten
Freundin, dem vernünftigen, realitätsbezogenen Teil in
meinem Leben, war zum Glück ebenfalls
immer noch
da.
»Du hast deinen Selbstmordversuch überlebt«, fuhr sie fort.
»Was hindert dich also daran, deine Mission zu einem glücklichen
Ende zu führen?«
»Das war kein Selbstmordversuch«, wollte ich widersprechen,
doch mit einem Mal spürte ich Gordy so stark in meinem
Herzen, dass ich mir ganz sicher war: Er lebte! Und womöglich
konnte er tatsächlich meine Hilfe brauchen.
Sina hatte recht. Was saß ich hier noch herum? Das Meer
hatte aus mir – einem lahmen, hilflosen Menschenmädchen –
eine schnelle, wendige Nixe gemacht und mir damit die Möglichkeit
gegeben, Gordy zur Seite zu stehen.
Ich bin jetzt wie er, dachte ich, und eine Mischung aus Euphorie
und erneut aufflammender Angst um ihn durchflutete
mich.
Ich wollte mich gerade vom Riff abstoßen, da bemerkte ich
links von mir eine Bewegung, und kurz darauf huschte hinter
dem Felssoldaten ein länglicher Körper vorbei. Mein Herzschlag
setzte aus. Blitzschnell zog ich den Schwanz hoch und
duckte mich tief in die Kuhle. Durch einen schmalen Spalt
zwischen dem Soldaten und dem Hauptriff sah ich, dass der
Körper silbern schillerte, außerdem schien er eine ähnliche
Größe zu haben wie ich. Möglicherweise ein Delfin oder ein
Hai oder ein besonders stattlicher Rochen. Da ich mich nie
für das Leben in den Meeren interessiert hatte, hatte ich auch
keine Vorstellung davon, welchen Tieren ich hier im Ärmelkanal
begegnen könnte. Und noch viel weniger wusste ich, wie
gefährlich sie mir werden konnten.
Während ich über all das nachdachte und mich nach Kräften
mühte, meine Furcht vor dem Unbekannten
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