Meeresrauschen
nach Atem.
»Nicht«, mahnte Gordy.
Noch einmal legte er seinen Mund auf meinen und beatmete
mich mit Meerwasser, das sich allmählich mit Luft mischte.
Der Druck auf meiner Lunge ließ sofort nach.
»Nixe sind es nicht gewöhnt, über Wasser zu atmen«, sagte
er lächelnd.
»Ich schon«, erwiderte ich beinahe trotzig. »Oder hast du
bereits vergessen, dass ich bis vor wenigen Stunden noch ein
Mensch gewesen bin?«
»Das ist vorbei.« Gordy musterte mich voller Mitgefühl.
»Luft wird nie wieder dein natürliches Element sein.«
Beklommen sah ich ihn an. Okay – ich hatte meine Verwandlung
zwar am eigenen Leib erlebt, trotzdem fiel es mir schwer zu erfassen, welche Konsequenzen sich daraus ergaben
und was das für mein weiteres Leben bedeutete.
»Hast du dich denn gar nicht gefragt, warum das passiert
ist?«, fragte Gordian leise, während er mich mit einem Arm
weiter fest umschlungen hielt und sich mit dem anderen an
eine Felsspitze klammerte, die steil aus dem Wasser ragte und
in einem dunklen Blau schimmerte.
»Aber sicher! Es ist passiert, damit ich dir helfen konnte!«
»Du hast mir aber nicht geholfen, Elodie.«
»Jetzt, wo du es sagst …«, entgegnete ich mit einem Anflug
von Selbstironie. »Es wäre mir beinahe gar nicht aufgefallen.«
Gordy sah mich an. Seine Miene war unergründlich, und
um seine Augen lag noch immer dieser schmerzhafte Zug, der
mich zunehmend beunruhigte. »Du solltest der Wahrheit endlich
ins Gesicht sehen«, wisperte er.
»Okay, und was ist deiner Ansicht nach die Wahrheit?«, erwiderte
ich aufgebracht.
»Nicht so laut.« Erschrocken legte er mir seinen Finger auf
die Lippen. »Durch die hohen Felsen hier in der Moulin Huet
Bay sind wir zwar einigermaßen vor den Blicken der Menschen
geschützt, das heißt aber nicht, dass sie uns nicht hören können.
Und solange sie keine Geräusche machen, nehmen wir
sie leider nicht wahr.«
»Aber … ich dachte, du kannst sie riechen«, stammelte ich.
»Nein.« Gordian strich mit seiner Nasenspitze über meine
Wange. »Für mich gibt es nur einen einzigen Duft«, flüsterte
er. »Deinen.«
Mein Puls schnellte in die Höhe und am liebsten wäre ich
auf der Stelle mit ihm ins Meer zurückgeglitten, aber Gordy
hielt mich fest.
»Ich habe gewusst, dass es passieren würde«, sagte er.
»Was? Dass ich mich verwandele? Dass ich in Wahrheit eine
Nixe bin? Ein Delfin wie du!«
Gordy wich meinem Blick aus. »Und wenn du ehrlich bist,
hast du es selber auch geahnt.«
»Was? Ich? Nein! Wieso?«
»Die Verletzung über deinem Knöchel ist nie richtig verheilt
…«
»Ja! … Und?«
»In den Nächten, in denen du geträumt hast, dass dich jemand
ertränken würde …«, fuhr Gordian unbeirrt fort.
»Was ist da gewesen?«, rief ich ungeduldig.
Gordys Mundwinkel zuckten. »Es war nie jemand in deinem
Zimmer.«
»Woher willst du das so genau wissen? Bloß weil mein Bettzeug
nach mir gerochen hat, muss das noch lange nicht heißen
…« Ich stockte. »Du hast eben doch selber gesagt, dass es
für dich ohnehin nur meinen Duft gibt. Woher also …?«
»Ich weiß es einfach«, unterbrach er mich. »Und beim zweiten
Mal war ich schließlich selbst dabei.«
Allerdings hatte er mir nicht erklären wollen, was geschehen
war, und ich hatte vor dem Frühstück mit Tante Grace nicht
mehr die Gelegenheit gehabt, deswegen noch weiter in ihn zu
dringen. Inzwischen brauchte ich das nicht mehr, denn plötzlich
war mir klar, was mein Traum und die Nässe in meinem
Bett zu bedeuten hatten. Es mussten Vorboten für meine Verwandlung
gewesen sein – ebenso wie das lose Hautstück, das
sich nach meiner Verletzung über meinem rechten Knöchel
gebildet hatte. Wie hatte ich all das bloß ignorieren können!
»Du hast recht«, erwiderte ich mit zitternder Stimme. »Ich
habe es geahnt … Tief in mir drin.« Aber ich hatte es nicht
wahrhaben wollen. Denn schließlich bedeutete es, dass ich
meine Herkunft, meine Wurzeln nicht kannte – und dass
meine Eltern womöglich gar nicht meine Eltern waren!
Ich richtete die Augen zum Himmel und öffnete meinen
Mund zu einem verzweifelten Schrei. Aber noch bevor ich
einen Laut von mir geben konnte, hatte Gordy mich bereits
unter die Wasseroberfläche gezogen.
Meine Mam ist meine Mam, und mein Pa ist tot, das weißt du
genauso gut wie ich!
Nur weil du es mir erzählt hast.
Er versuchte, meinen Blick
gefangen zu halten und sein Lächeln zu lächeln, um mich zu
beruhigen, doch es gelang ihm nicht. Vielleicht hatte es
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