Meeresrauschen
ihn entgegennahm. Tatsächlich
kam er mir vor wie ein Heiligtum.
»Dann hast du also gewusst, was passiert war … Also, dass
ich mich in eine Nixe verwandelt habe?«
»Gewusst ist vielleicht ein bisschen zu viel gesagt«, entgegnete
Tante Grace. »Bei jedem Telefongespräch, das ich in den
letzten Jahren mit deiner Mutter geführt habe, klang ihre
Sorge durch, dass du deinen Weg nicht finden könntest. Die
Musikschule hast du nach drei Stunden aufgegeben, deine
anfängliche
Begeisterung für die Jazztanzgruppe schlug innerhalb
weniger Wochen in das genaue Gegenteil um, und später
konntest du dich nicht entscheiden, ob du lieber Basketball
spielst oder einen Zeichenkurs beginnst«, zählte sie auf. »Ganz
anders als deine Freundinnen hast du nie einen Berufswunsch
geäußert, und als du in die elfte Klasse gekommen bist, hast
du dich erst auf den letzten Drücker für ein Profil entschieden.
Außerdem bist du deinen Eltern in vielen Dingen so unähnlich,
dass ich mir sehr gut vorstellen konnte, dass bei dir
die Nix-Gene tatsächlich durchschlagen würden«, fuhr Tante
Grace nach einer kleinen Atempause fort. »Vor allem aber hat
mich deine extreme Angst vor dem Wasser stutzig gemacht.
Es mag ein wenig seltsam klingen, aber es kam mir beinahe so
vor, als würdest du dich mit allen Mitteln gegen deine Bestimmung
wehren.«
Ich spürte, wie Gordian zusammenzuckte, doch ich zwang
mich, ihn nicht anzusehen, sondern drückte nur wieder leicht
seine Hand. Ohnehin ahnte ich, was ihm bei den letzten Worten
meiner Großtante durch den Kopf ging, und natürlich
dachte auch ich an das, was er mir über Cullum und Ozeane
erzählt hatte.
»Du bist ein kluges, sensibles Mädchen, Elodie«, erklärte
Tante Grace nun, und ihr Blick strahlte so viel Liebe und Wärme aus, dass mir für einen Moment ganz schwummerig
zumute wurde. »Und als Rafaela mir sagte, wie sehr dich der
Tod deines Vaters mitnimmt, habe ich nicht eine Sekunde gezögert,
ihr vorzuschlagen, dass du eine Weile bei mir wohnen
könntest.«
Erstaunt hob ich die Augenbrauen. »Es war also gar nicht
Mams Idee?«
»Nein.« Tante Grace schüttelte den Kopf. »Irgendwie habe
ich wohl geahnt, dass die Zeit für eine Entscheidung gekommen
war. Es ist allerdings nicht einfach gewesen, Rafaela
davon zu überzeugen, dass du auf dieser kleinen Insel hier gut
aufgehoben bist. Ich musste ihr hoch und heilig versprechen,
höllisch auf dich achtzugeben.« Wieder lachte sie. »Tja, und
das ist in der Tat gar nicht so einfach gewesen. Schließlich blieb
mir nichts anderes übrig, als dich loslaufen zu lassen, damit ich
deiner Entwicklung nicht im Weg stehe. Jedes Mal, wenn du
dort unten auf den Klippen saßest, habe ich gedacht, dass das
Meer dich holen würde. Und jedes Mal, wenn du klatschnass
nach Hause kamst, habe ich mich darüber gewundert, dass es
offenbar doch nicht passiert war.«
Ich senkte den Blick in meinen Schoß, wo Gordys und
meine Hände noch immer ineinander verschlungen lagen.
Plötzlich fiel mir etwas ein. »Was ist mit Ruby?«, fragte ich.
»Hast du ihr gesagt, was mit mir los ist?«
»Mir blieb gar nichts anderes übrig«, gab meine Großtante
zurück. »Ruby war bereits drauf und dran, Himmel und Hölle
in Bewegung zu setzen, um dich aus dem Meer fischen zu lassen.
Ich bin wirklich überrascht gewesen, wie schnell sie sich
davon überzeugen ließ, dass die Beamten von der Wasserschutzpolizei
dir viel gefährlicher werden könnten als die See.«
»Ruby weiß um die Nixe«, erwiderte ich. »Sie weiß, wer Gordian
ist, und sie weiß auch, wer … Cyril ist.«
Cyril! – Oh, mein Gott, ich hatte Gordy gar nicht danach
gefragt, wie schwer verletzt er war! Mir wurde abwechselnd
heiß und kalt, so sehr schämte ich mich dafür.
Auf einmal konnte ich es kaum noch erwarten, in mein Zimmer
hinaufzugehen und endlich mit Gordy allein zu sein. Von
der Feindschaft, die zwischen den Delfinen und den Haien
herrschte, wollte ich meiner Großtante lieber nichts erzählen.
Es war schon schlimm genug, dass sie mich vor den Menschen
schützen musste. Wenn sie nun den Eindruck gewann, dass
der Aufenthalt im Meer für mich genauso bedrohlich oder
sogar noch gefährlicher war, würde sie sich nur umso mehr
Sorgen um mich machen.
Eine Sache brannte mir allerdings noch auf der Seele. »Was
ist mit Jane? Warum hast du mich ausgerechnet zu ihr geschickt?
«
Tante Grace runzelte die Stirn. Verständnislos sah sie mich
an.
»Das weißt du doch. Ich wollte, dass du beschäftigst
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