Meeresrauschen
Gordy völlig und
lief stattdessen mit geballten Fäusten auf Jane zu. »Warum hast
du ihnen mein Versteck gezeigt?«, fauchte er.
»Lass sie in Ruhe!«, rief ich. »Sie hat dich nicht verraten. Ich
bin von selbst drauf gekommen.«
Ich eilte so blindlings hinter Cyril her, dass ich nicht auf
meine Kleidungsstücke auf dem Rasen achtete. Mein rechter
Fuß verfing sich in der Jeans, ich geriet ins Straucheln und
stürzte der Länge nach auf den Boden.
Ein jäher Schmerz jagte mir den Ellenbogen hinauf und
für einen Moment wurde mir schwindelig.
Gordy war sofort bei mir, um mir auf die Füße zu helfen.
»Hast du dir wehgetan?«, fragte er besorgt.
Ich schüttelte den Kopf.
»Zeig her.« Sanft umfasste Gordian mein Handgelenk, doch
ich entzog es ihm wieder.
»Ist nicht so schlimm«, sagte ich gepresst und richtete meinen
Blick auf Cyril, der sich inzwischen zu mir umgedreht
hatte. Im Sonnenlicht sah sein Körper noch viel geschundener aus als unter Wasser. Ich mochte mir gar nicht vorstellen,
welche Qualen er litt.
»Es passiert, wenn die Außenhülle reißt und die Unterhaut
zu lange mit den Chemiegiften im Meerwasser in Berührung
kommt«, erklärte Jane, die meinen erschrockenen Gesichtsausdruck
bemerkte. Sie hatte den Jungen an die Hand genommen
und kam nun langsam ein Stück näher. »Sie greifen den Nixkörper
sofort an und fressen sich allmählich in ihn hinein. Die
Unterhaut beginnt zu faulen, und die Oberhaut platzt auf, um
die Gifte auszuleiten. Die damit verbundenen Schmerzen sind
so stark, dass nicht wenige das Bewusstsein verlieren, ehe sie
es schaffen, sich in den Meeresboden einzugraben. Dort nämlich
wird der Fäulnisprozess aufgehalten. Die Kristalle des Erdbodens
absorbieren die Gifte und versorgen den Organismus
mit den nötigen Mineralien. Die Hülle kann wieder heilen.
Das Ganze dauert allerdings eine Weile. Cyril müsste noch
mindestens zwei Wochen im Teich bleiben, um ganz gesund
zu werden.«
»Sei doch still«, zischte er. »Siehst du denn gar nicht, dass
Elodie Schmerzen hat?«
Was?
»Ich?«
»Ja, du«, knurrte Cyril.
Ich wollte auflachen, so absurd war das Ganze, aber Gordy
beanspruchte nun meine komplette Aufmerksamkeit.
»Gib mir deine Hand«, sagte er so eindringlich, dass ich ihn
einfach ansehen musste.
»Warum?«, fragte ich ungeduldig. »Sie ist völlig in Ordnung.«
»Ist sie nicht.«
»Gordian hat recht«, hörte ich Jane sagen. »Du kannst froh
sein, wenn du dir nichts gebrochen hast.«
»Unsinn, ich …« Die Worte erstarben in meiner Kehle,
denn nun kam der Schmerz in meinem Unterarm scharf und
pulsierend zurück. Die Haut über meinem Handgelenk leuchtete
tiefrot und schwoll zusehends an. »Aber ich bin doch bloß
gestolpert«, stammelte ich. »Ich habe mich einfach nur abgestützt.
Es kann überhaupt nicht sein, dass …«
»Ganz ruhig, Elodie«, flüsterte Gordy.
Seine Stimme strich mir über die Haut wie eine lindernde
Salbe. Vorsichtig umfasste er meinen Unterarm und berührte
die Stelle über dem Handgelenk mit seinen Lippen.
Mit jedem Kuss löste sich der Schmerz mehr und mehr auf,
bis nichts weiter zurückblieb als ein zartes Kribbeln und eine
wohlige Wärme, die meine Knochen durchflutete. Es fühlte
sich an, als wäre nie etwas gewesen.
Einen Moment lang war es so still, dass man das Meer in der
Ferne rauschen hören konnte. Cyril, Jane und der Junge starrten
Gordy und mich an, als wären wir das achte Weltwunder.
Schließlich war es Jane, die als Erste ihre Sprache wiederfand.
»Du hast ein sehr außergewöhnliches Talent. Vielleicht
könntest du Cyril ebenfalls helfen …?« Sie formulierte diese
Frage sehr vorsichtig.
Gordy atmete tief durch. Das Türkisgrün seiner Iris war
dunkler als sonst und er wirkte ein wenig abwesend. Fast unmerklich
schüttelte er den Kopf.
»Bitte«, sagte ich leise.
»Nein. Er kann in den Teich zurückgehen und …«
»Gordy«, raunte ich. »Er leidet Höllenqualen. So kann er
uns nicht helfen.«
»Vielen Dank für deinen Einsatz«, presste Cyril zwischen
zusammengebissenen Zähnen hervor. »Aber ich lege wirklich
keinen Wert darauf, von einem Delfin geküsst zu werden.«
»Du bist ein Dummkopf!«, zischte ich.
In Cyrils schwarzen Augen blitzte es. Zornig sah er mich an.
Doch das beeindruckte mich nicht. Hier und jetzt ging es um
mehr als um seine Eitelkeit oder seinen verletzten Stolz.
»Es ist alles andere als tapfer, freiwillig zu leiden«, sagte ich
zu ihm. »Außerdem hast du etwas gutzumachen, also stell
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