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Meerestochter

Meerestochter

Titel: Meerestochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena David
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und stolperte, fluchte und zerrte an den Riemchen ihrer Schuhe, die nicht nachgeben wollten. Schließlich kroch sie auf allen vieren, immer weiter, blind für die Richtung. Ihre Fingernägel brachen ab, ihre Hände wurden schmutzig, und ihre Knie verfärbten sich grün unter dem Minirock. Sie krabbelte auf das Ufer zu.
    Adrian folgte ihr in einigem Abstand.
    Dort angekommen, blieb Maud sitzen, in der Haltung der kleinen Meerjungfrau, vor Erschöpfung friedlich. In ihrem Hirn, in ihren Adern, kreiste das Betäubungsmittel und sorgte dafür, dass ihr wie vor Staunen über eine nie gesehene Welt der Mund offen stand. Plötzlich hob sie den Arm. Mit ausgestrecktem Finger wies sie hinaus auf die Bucht. «Das Meer», sagte sie. Es klang, als hätte sie den Mund voller Wolle. «Das Meer ist weg.» Sie lachte ungläubig.
    Gleich ist es so weit, dachte Adrian. Die Arme mittlerweile gesenkt, kam er näher und trat hinter sie. Er schaute hinunter auf ihren Scheitel, auf das kupferne Glänzen ihrer Haare, auf die so mageren Schultern, die üppigen Brüste unter dem Top mit den Spaghettiträgern. Sie sah so schwach aus, so hilflos. Es würde ein Kinderspiel sein. Wieder dachte er an das Benzin, dachte an das Messer im Picknickkorb. Stellte sich vor, wie er die Klinge heben und durch diese weiße Haut stoßen würde. Dachte an spritzendes Blut. An Fleisch, das klaffte, an Gerüche und Geräusche, an Knochen, die mit einem Hieb zu zerteilen waren und krachend brachen, und schloss die Augen. Er wusste eines: Er konnte das nicht.
    Mehr noch: Er wollte es nicht.
    Vielleicht war es besser, sie einfach ins Haus zu schleifen und dort liegenzulassen, bis die Flammen sie fanden? Adrian musste würgen.
    Er öffnete die Augen wieder. Schwarzsilberne Ringe kreisten um alles, was er sah. Ihm war schwindelig. Aber damit war nichts gelöst. Dort saß immer noch Maud. Das Weib, das wie ein Monster seine Zukunft fraß.
    «Das Meer ist weg.» Diesmal war der Satz kaum noch verständlich.
    Er sah sie wanken und trat einen Schritt zurück, damit sie nicht gegen ihn sank und er mit ihr in Berührung käme.
    «Seltsam», brachte Maud noch heraus, ehe sie umfiel.
    Seltsam war wahrhaftig vieles. Seltsam, dass manche leidenschaftlich gerne grünen Salat aßen, andere nicht. Seltsam der Brauch, sich zur Begrüßung die Hand zu reichen. Seltsam die Narbe, die er immer noch an seinem Knie hatte von einem Sturz, den er mit fünf gehabt hatte, während er die Gesichter der Menschen, die ihn damals aufhoben, trösteten und verbanden, vergessen hatte. Seltsam die Gefühle, die einen Menschen treiben konnten, die Irrtümer, die er beging, allem voran in der Einschätzung seiner selbst. Seltsam war eigentlich beinahe alles. Mein Leben vorneweg, dachte Adrian und hob den Kopf. Da sah er das Allerseltsamste von allem.
    «Das Meer», sagte Adrian.
     
    «Es ist weg!» Morningstar konnte nicht glauben, dass er das sagte, aber er glaubte ja auch nicht, was er sah. Das Meer war verschwunden. Wo es sich erstreckt hatte, gähnte jetzt eine Mondlandschaft aus schwarzen Steinen und endlosem Schlick. Gebirge türmten sich auf, von denen sie nicht gewusst hatten, dass sie da gewesen waren. Sie erstreckten sich so weit hinaus, wie man blicken konnte. Und alles war tot.
    Nur hier und da in einer Pfütze nahe dem Ufer zappelte und brodelte es beunruhigend. Dort hatten Fische sich in die letzten Teiche gerettet und rangen zusammengepfercht ums Überleben.
    «Ja, aber wo … aber wo … wo ist es hin?»
    Morningstar drehte sich nicht um, um zu erfahren, wer das gefragt hatte. In diesem Moment sah keiner der Männer von Broxton schlauer aus als Pete, der Idiot.
    «Ob man trocken bis nach Frankreich kommt?», fragte ein Witzbold. Auch aus den Häusern strömten die ersten Schaulustigen zum Kai. «Was wohl die Froschfresser dazu sagen?»
    «Bei dem Tsunami in Indonesien war’s genauso. Das hab ich in der Zeitung gelesen.»
    Jetzt schaute Morningstar sich doch um. Knightley war nicht zu sehen. Er saß im Wagen und telefonierte. Morningstar wünschte, er würde bald fertig werden. Denn diesmal gab er Pete mit den Spinnenhänden recht. Das hatte er in der Tat auch gelesen. Einige der Touristen, die den Tsunami damals mit- und überlebt hatten, berichteten, dass das Meer sich plötzlich zurückgezogen habe, um kurz darauf mit aller Wucht über sie hereinzubrechen. Vage erinnerte er sich an Erzählungen vom Herumgespültwerden, vom Hängen in Strommasten und an Balkonen, von Trümmern

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