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Meerestochter

Meerestochter

Titel: Meerestochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena David
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und Leichen.
    «Aber das hier ist der Kanal», rutschte es ihm heraus, noch ehe ihm klar war, dass das seine Gedanken waren. «Hier gibt es keine Tsunamis. Hier können gar keine entstehen.» Zustimmungsheischend schaute er sich nach den Einheimischen um. «Ist doch so?» Rose, war sein nächster Gedanke, und: Ob sie schon zu Hause war? Ob das Cottage hoch genug lag? Er kniff die Augen zusammen und versuchte sich zu erinnern, was die Indonesienurlauber darüber gesagt hatten, wie weit das Meer sich zurückgezogen hatte. «Christy?», fragte er schließlich.
    Sie hatte vor allen anderen gestanden, dort, wo noch vor kurzem die Wasserlinie gewesen war; es hatte Flut geherrscht, sollte immer noch herrschen. Aber ihre Zehen hatten sich in den feuchten Schlick gewühlt, der langsam trocknete. Ihr Haar flatterte in einem Wind, der wie entfesselt wehte, aus keiner bestimmten Richtung, als fiele er in Wellen und Kreiseln in den vom Wasser befreiten Raum ein und spielte darin herum. Sie hatte hinausgestarrt auf die feuchte Wüste, über den Schlamm, die abfallenden Felswände und die Schluchten und Gipfel, die seit Menschengedenken von Salzwasser bedeckt gewesen waren. Hatten sie schon einmal frei gelegen? Würden sie jemals wieder bedeckt sein?
    Morningstar dachte an versteinerte Muscheln, die er auf Alpengipfeln gefunden hatte. Er dachte daran, dass er irgendwo gelesen hatte, dass das Mittelmeer einmal nicht mehr existieren würde, weil Afrika sich auf Europa zuschob. Das waren Prozesse, die in Millionen von Jahren abliefen. Aber irgendwann war irgendetwas geschehen. Irgendwann war die Muschel gestorben. Irgendwann würde das Knirschen zu hören sein, mit dem das letzte Stück mediterranen Blaus verschwand und das Land sich verband. War es das, was hier geschah? Hier? Heute? «Christy?», wiederholte Morningstar.
    Sie starrte noch immer hinaus, als könnte ihr Blick das Meer zurückholen. Ihre ganze Gestalt vibrierte. Fast war es, als könnte man blaue Blitze um sie herum zucken sehen.
    «Ja», sagte sie. «Es wird zurückkommen.» Sie wandte sich um und warf ihm einen Blick zu, der ihn taumeln ließ. «Ihr müsst gehen», sagte sie. Dann wandte sie sich endgültig ab und hob den Fuß, um den ersten Schritt auf das zu setzen, was einmal Meer gewesen war. Ihre Heimat.
     
    Adrian hob die Hand. Er holte aus und schlug Maud ins Gesicht. «Los», brüllte er. «Los, wach auf.»
    Sie stöhnte und murmelte etwas. Hektisch hob er den Kopf und schaute hinaus, wo im schwindenden Licht langsam ein dunkler Streifen sichtbar wurde. Dort, wo eigentlich das Abendrot stehen sollte oder allenfalls eine Schicht türkisfarbenen, leicht grünlichen Abendblaus, erhob sich eine schwarze Wand, von der Adrian sich nur zu gut vorstellen konnte, aus was sie bestand: aus Wasser, purer Kraft, einer unvorstellbaren Energie, die nur zu bald über sie hereinbrechen würde. Über Maud, ihn, Broxton. Tante Rose, fiel ihm ein, und er betete, dass das Cottage hoch genug läge. Und zum ersten Mal war er dankbar dafür, dass sie ihm Christy entführt hatte. Wenigstens sie war in Sicherheit, weit fort im Landesinneren.
    «Maud, um Himmels willen, komm zu dir.»
    Er zog sie hoch und legte sich ihren schlaffen Arm um die Schulter. Er wusste gar nicht genau, warum er das tat. Wieso er sie nicht einfach liegen ließ, ein bedauerliches Opfer der Flut, das nach dem fatalen Picknick nicht mehr hatte fliehen können. Sie würde nicht die Einzige sein, dachte er mit zusammengebissenen Zähnen. Unwahrscheinlich, dass jemand Fragen zu ihrem Tod stellen würde. Aber er wollte das nicht. Nein, er wollte es nicht mehr.
    «Maud, nun hilf doch ein bisschen mit.» Noch einmal setzte er sie ab und tätschelte herb ihre Wangen. Sie öffnete die Augen und sah ihn an wie ein schlaftrunkenes Kind.
    Er hob den Finger vor ihr Gesicht. «Das machst du nicht mit mir. Hast du gehört? Niemand tut das. Niemand macht einen Mörder aus mir.» Es war ihm wichtig, das zu sagen, noch wichtiger, dass die Botschaft gehört wurde, dass er sie noch einem Menschen mitteilen konnte, ehe das Wasser über sie kam.
    Aus Mauds Mund rann ein dünner Faden Speichel. «Adrian.» Ihre Augenlider flatterten, ihr Kopf fiel wieder zur Seite.
    Adrian wurde bewusst, wie verrückt er sich benahm. Er nahm die Hand wieder herunter und machte sich daran, die halb Bewusstlose weiterzuschleppen. «Niemand macht einen Mörder aus mir», wiederholte er brummig, aber zufrieden, sich an diesem Satz festhalten zu können.

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