Meerestochter
Endlich wusste er wieder, was er tat und was er zu tun hatte. Sie mussten aus diesem Kessel heraus, in dem sie mit absoluter Gewissheit sterben würden. Sie mussten die Ebene droben erreichen und dann so weit landeinwärts flüchten, wie es ihnen möglich war. Dann blieb nur noch zu beten, dass das reichte.
Vielleicht fanden sie ja ein Auto. Vielleicht nahm sie jemand mit.
Aber zuerst einmal mussten sie hier heraus. Noch standen sie unter Apfelbäumen. Die es bald nicht mehr geben würde. Adrian dachte ein Lebwohl, als er Maud unter ihnen hindurchschleppte. Dann lag der Pfad vor ihnen. Er war problemlos breit genug für einen und ungefährlich, wenn man einigermaßen sicher auf den Beinen war. Sie aber waren zu zweit. Und er trug eine Frau über der Schulter, die völlig schlaff und schwerer war, als sie aussah. Adrian schaute hinauf. Zum ersten Mal kamen die Kliffe ihm steil vor. Kurz dachte er daran, was mit ihnen geschehen würde, wenn er auf halber Höhe das Gleichgewicht verlor. Oder ihm die Kraft ausging. Dann erinnerte er sich daran, was sie hier erwartete.
«Maud», keuchte er und stellte sie auf die Beine, die sofort einknickten, als wären sie aus Stoff. «Wir müssen da jetzt rauf, Mädchen, das ist dir klar, ja? Sonst sind wir tot und können das nicht mehr unter uns ausmachen.» Er legte sich ihren Arm neu zurecht, während er sprach, löste dann mit einer Hand seinen Gürtel und befestigte ihn so um ihre und seine Schultern, dass sie ihm nicht völlig wegsank, auch wenn er sie kurz losließ. «Ich weiß ja nicht, wie es dir geht», fuhr er dabei fort, «aber ich für meinen Teil möchte noch nicht sterben. Ich habe noch viel vor, und ich wette, dir geht es genauso.» Er war fertig mit seinen Maßnahmen und wandte den Kopf, um zu sehen, ob alles hielt.
Zu seinem Erstaunen waren ihre Augen offen und starrten ihn groß an.
Adrian versuchte ein Lächeln. «Ist schon gut», sagte er. «Ist alles gut. Einfach einen Fuß vor den anderen setzen.»
Wieder staunte er, denn sie schien ihn gehört zu haben. Aus ihrem Mund kam zwar nur Stöhnen und unverständliches Zeug. Aber sie hob den linken Fuß, bemüht, einen Schritt zu tun.
«Ja, Maud, ja.» Adrian jubelte innerlich. Er fühlte sich mit einem Mal erlöst, unendlich erleichtert. «Wir schaffen das schon.» Er stützte sie und half ihr, das Gewicht zu verlagern. Der nächste Schritt, noch einer. Nach wie vor lastete sie schwer auf seiner Schulter. Aber so konnte es gehen. Wenn sie nicht erneut ohnmächtig wurde. Wenn ihre Kräfte sie nicht verließen. Wenn sie nicht stolperten. Er schwitzte, trotz des Windes. Ihr Gewicht hing unglücklich seitlich an ihm, sodass er nicht seine ganze Kraft einsetzen konnte. Und er bemerkte, wie sein Atem bald schwerer ging. Trotzdem: Sie kamen voran. Wieder warf er ihr einen Blick zu.
«Aber du bist und bleibst eine verrückte Hexe, das wollen wir mal festhalten, was, mein Mädchen?» Erfüllt von einer Mischung aus Wut und Zärtlichkeit zerrte er sie weiter. Das hier war Maud, noch immer Maud. Aber sie war auch der lebende Beweis dafür, dass er kein schlechter Mensch war. Alleine dafür war er fast bereit, sie zu lieben. «Wir schaffen das schon», stieß er hervor und hielt inne, um neu zu Atem zu kommen.
Ein Blick zurück sagte ihm, dass sie nicht so weit gekommen waren, wie er gedacht hatte. Was hatten sie eigentlich die ganze Zeit getan? Wieso war er so erschöpft? Noch immer hatten sie das Gras kaum hinter sich. Neben ihnen wuchs noch, zitternd im Wind, ein Ginster. Die nackten Felsen standen ihnen erst noch bevor. Seine linke Schulter, die Mauds Gewicht trug, schmerzte fast unerträglich.
«Wir schaffen es», redete er sich selber Mut zu. Ein Blick hinaus aufs Meer ließ ihn verstummen. Die Wand, die sich dort aufgebaut hatte, war fern. Aber sie war das Größte, was er je gesehen hatte. Unglaublich, dass so etwas aus Wasser war. Unglaublich, dass es überhaupt existierte. Wäre es ein Gebäude gewesen, von ihm geschaffen, er hätte es für einen Traum gehalten, auf den er stolz gewesen wäre. So war es ein Albtraum.
«Maud», sagte er, vergaß das Einschneiden des Gürtels in seiner Haut und seine gequälten Muskeln, und schulterte die junge Frau neu. «Ich glaube, wir müssen uns für unser Happy End ein bisschen beeilen.»
Morningstar trieb die Leute an, so gut er konnte. Er rief ihnen zu, dass sie zu ihren Autos laufen und sich in Sicherheit bringen sollten. Dass sie sich nicht damit aufhalten
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