Meerestochter
noch ein ganzer Monat bis zum nächsten Vollmond! Sie war gefangen hier unten, während die dort oben wer weiß was trieben. Er hatte sie geküsst. Geküsst! Sie hatte es gespürt, als wäre sie selbst es gewesen, hatte die Explosionen wahrgenommen, die der widerliche Maud-Geschmack in seinem fehlgeleiteten Gehirn auslöste. Ach, verflucht!
Sie konnte gar nichts tun, als sich das alles von der nächsten Klippe aus anzusehen. «Und jetzt tut sie auch noch so, als hätte sie ihn gerettet! Heuchlerisches Stück!» Ondra fauchte. Das Geräusch trieb die Krebse in ihrer Grotte tiefer in die Felsspalten, wo sie verharrten und die Fresswerkzeuge still hielten.
«Wenn du meinst, wenn du meinst», ahmte Ondra Mauds Stimme nach. «Ohhhhhhhh!»
Die andere würde ihn ansehen, ihn streicheln, ihm süße Dinge ins Ohr flüstern. Sie würde ihre Finger mit seinen verschränken und ihm sagen, dass sie ihn liebte. Immer nur die andere. Während sie mit ihrer Flosse herumplanschte. Ein Hieb ließ die Seesterne vom Grund aufwirbeln. Hätten sie ein menschenähnliches Verdauungsorgan besessen, ihnen wäre kotzübel geworden. So schlug ihr Unbehagen nur wie ein Pendel auf Ondra zurück, die es gierig in sich aufnahm. Alles Unglück dieser Welt war ihr willkommen. Wem wäre in diesem Moment elender zumute gewesen als ihr?
«Ich hätte ihr die Ferse abreißen und sie den Krabben zum Fraß vorwerfen sollen. Ach, Adrian!» Ihr kamen die Tränen, kleine Tropfen, exakt so salzig und nass wie das Wasser ringsum, die mit dem großen Ganzen verschmolzen, kaum dass sie geweint waren. Keiner sah sie, keiner hörte sie. Meerjungfrauen weinten immer vergebens.
«Adrian.» Ondra schaute sich um. Da lagen sie, all ihre Schätze, Relikte der Menschenwelt, die mit der Flut vom Strand weggetragen worden waren, die der Wind ihr zugespielt hatte oder die sie hier und da aus Wracks barg. Da war so ein Ding gewesen aus Papier, dünne, raschelnde Seiten voller Buchstaben, viel mehr, als auf den Schiffswänden standen. Sie waren Ondra vor den Augen verschwommen. Auf der Vorderseite war das Bild einer Frau gewesen und der Schriftzug «Das Leben der Agatha Christie». Also war Agatha Christie wohl eine Frau? Daran hätte sie eher denken müssen. Sie hätte sich Agatha nennen sollen. Das nächste Mal, wenn sie an Land ging, würde sie das tun. Aber dann wären Adrian und diese Dings, diese Maud, vermutlich schon …
Sie wollte den Gedanken nicht weiterdenken. Unwillkürlich ballte sie die Fäuste. Das völlig aufgeweichte Taschenbuch wurde zu einem schmierigen Klumpen, der sich in eine trübe Wolke auflöste und davontrieb, als sie die Faust wieder öffnete. Fische kamen und sogen neugierig mit runden Mäulern die Papierteilchen ein. «Ach, verdammt!», schrie die Nixe wieder. So war es mit allem. Mit den Kleidern, die sie neugierig angeschleppt hatte, und die grün und schmierig wurden, erst ihre Farbe, dann ihre Form und dann jegliche Existenz verloren, mit den kleinen Dingern, die erst piepsten und dann starben, so wie Adrians. Mit den Ohrstöpseln, aus denen Musik kam – nur unter Wasser nicht. Mit den Schuhen, die zu nichts zu gebrauchen waren, den kaputten Eimern, zerrissenen Angeln, zerbrochenen Flaschen, zerfaserten Seilen. Alles war kaputt, kaputt. Nur Müll, manchmal schon ehe der Gegenstand das Meer erreichte, manchmal zerfiel er erst in ihrer Höhle. Ihre «Schatzhöhle» nannte Aura das. Ondra schnaubte. Aura hatte schon immer ein Talent für schmerzhaften Spott besessen.
Wütend fegte sie alles in eine Felsspalte und zwang die dort sesshaften Garnelen zu einigen wuselnden Umbaumaßnahmen. Vor einem kleinen Felsvorsprung zögerte sie. Das einzige Ding, das noch einigermaßen intakt aussah, stand dort. Es war eine kleine Glocke. Sie gab unter Wasser einen kaum hörbaren Ton von sich. Der Strick, an dem sie einst gehangen hatte, war mit Muscheln behaftet und halb verrottet. Aber das Metall selber war noch heil; Ondra rieb oft über die Oberfläche und polierte sie, dankbar, dass die Glocke nicht wie alles andere in Stücke fiel. An ihrem Rand waren Buchstaben eingraviert. «Lady Blue», konnte Ondra entziffern. Sie wusste nicht, was das bedeutete, aber es gefiel ihr. Auch jetzt wieder fand sie Trost bei dem einzigen Stück ihrer Sammlung, das den Namen Schatz zumindest von ferne verdiente. Sie nahm es in die Hand und ließ den kurzen, hellen Laut erklingen.
«Willst du das auch wegwerfen?»
Ondra zuckte zusammen. Unwillkürlich schaute sie
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