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Meerestochter

Meerestochter

Titel: Meerestochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena David
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sich um. Im nächsten Moment begriff sie, dass die Stimme nicht von außen kam. Sie sprach in ihrem eigenen Kopf mit ihr. Es gab nichts zu verbergen. Sie konnte sich nicht verstecken. Resigniert senkte sie für einen Moment den Kopf. Dann hob sie ihn trotzig wieder. Die kleine Glocke hielt sie mit beiden Händen fest.
    «Hallo, Vater.»

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14. Kapitel
    «Glaub mir, es wäre der richtige Schritt.» Die Stimme des Meerkönigs war tief und schwingend. Sie füllte das Bewusstsein, in das sie eindrang, bis zum Rand aus. Aber Ondra war ihres Vaters Tochter. Sie kannte den Trick. Sie beherrschte ihn selber, wenn sie wollte. Er machte ihr keine Angst, und er beeindruckte sie nicht. Er machte sie nur unglaublich wütend. Trotzig hob sie das Kinn und fragte: «Kannst du dich nicht darauf beschränken, mich über Nox zu kontrollieren?»
    «Sie und wir», fuhr ihr Vater unbeirrt fort. «Das sind zwei Welten, die die Natur strikt geschieden hat. Da gibt es keinen Raum für individuelle Lösungen.»
    «Gut, dass du das erwähnst», sagte sie. «Wo du doch gerade einen Tsunami auf die asiatische Küste losgelassen hast. Wie viele Kilometer drang die Flut nochmal ins Landesinnere? Wenn das mal keine Überschreitung natürlicher Grenzen war.»
    «Sie hatten etwas entdeckt.» Die Stimme ihres Vaters wurde düster.
    «Wie viele Tote, Papa?»
    Das Meer um sie herum wurde unruhig. Ondra spürte, wie sie hochgehoben und durchgerüttelt wurde. Sie griff nach einem Felsen, um Halt zu bekommen. Offenbar war ihr Vater sehr aufgebracht. Seine Stimme, als er wieder sprach, klang zornig. «Sie mit ihren Echoloten und Tiefseekameras und Forschungsschiffen und Frühwarnsystemen. Und mit den Kabeln, über die sie sich Nachrichten zusenden über den Grund des Meeres. Ich konnte kein Risiko eingehen.»
    «Ich bin sicher, du warst gründlich.»
    «Ja!» Ein letzter Rüttler, ein Aufwirbeln von Sand. Dann setzte alles sich wieder, und das Wasser wurde wieder klar. Nur in den Felsen rumpelte es noch ein wenig nach.
    Ondra hielt unauffällig Ausschau nach ihrer Glocke und war froh, sie halb im Schlick vergraben noch zu entdecken. «Und dass ich diesem armen Jungen heute das Leben gerettet habe, ist jetzt vermutlich ein Kapitalverbrechen, das zwingend notwendig den Untergang ganz Englands nach sich zieht. Ach was, seien wir großzügig, nehmen wir Irland auch noch gleich mit dazu. Schaffen wir ein richtig tolles neues Atlantis.»
    «Sei nicht so zynisch, Ondra. Atlantis war ein Sonderfall, das weißt du genau.»
    «Sie haben es in der Schule jedes Jahr wieder erwähnt, ja. Genau wie diese Südseeinsel mit dem Vulkan, wie hieß sie noch? Egal, da blieb auch keiner übrig. Und wie war das mit der Forschungsstation in der Antarktis vor fünf Jahren? Alles klare Sonderfälle.»
    «So ist es, Kind. Du weißt so gut wie ich, was die Forscher mit ihrem Sonar entdeckt hatten. Und die Insulaner fingen an, Jagd auf uns zu machen.»
    «Mit Bambusspeeren. Als ob das viel gebracht hätte.» Ondra suchte ein Gähnen zu markieren, hörte aber erschrocken auf, als der Fels unter ihr erneut grummelte.
    «Lenk nicht ab», verlangte ihr Vater. «Er ist kein armer Junge, und du hast ihm auch nicht das Leben gerettet.» Die Stimme des Meerkönigs wurde mit jedem Wort lauter. «Du hast dich ihm genähert und dich ihm gezeigt. Du bist Risiken eingegangen, die ich nicht dulden kann.»
    «Nein, ich …» Das Beben war inzwischen so laut geworden, dass Ondra schreien musste, um sich noch verständlich zu machen. Sie konnte ihre eigene Stimme kaum noch hören. Das Wasser setzte sich in Bewegung und begann, einen Wirbel zu bilden, der die Meerjungfrau packte und an den Wänden ihrer Grotte entlangschrammen ließ. In Panik suchte sie den Ausgang und schaffte es gerade noch, sich ins freie Wasser zu ziehen, ehe ihr Refugium in sich zusammenstürzte.
    «Das», hustete und spuckte sie, «ist unfair.» Mehr brachte sie nicht heraus, denn auch hier draußen war die See in Aufruhr, und Ondra brauchte ihre ganze Kraft, um nicht fortgerissen zu werden. «Ich habe nicht …»
    «Lüg mich nicht an!», donnerte ihr Vater. Er hielt sie fest in seinem Griff. «Du wirst dich ihm niemals wieder nähern. Du wirst keinem Menschen mehr nahe kommen. Niemals!»
    «Nein!», schrie Ondra. Luftblasen stiegen in gewaltigen Wolken auf, drangen in ihre Nase, ihren Mund und nahmen ihr den Atem. Ihr wurde schwindelig, sie ließ die Felsen los. Der Sog packte sie und wirbelte sie

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