Meerestochter
einem Riesenseufzer auf den blauen Stuhl. Was hatte er sich da bloß angetan?
Mitfühlend schob Rose ihm einen dampfenden Becher Tee zu. «Trink», sagte sie. «Dann kriegst du keinen Kater. Denn Kater sind …»
«… ein Dehydrierungsphänomen, ich weiß, Tante.» Sie schwiegen und bliesen auf das heiße Getränk in ihren Tassen.
«Der Brief», begann Rose schließlich.
«Ich hätte nicht danach fragen sollen. Wir müssen nicht darüber reden.»
«Ich möchte aber», sagte seine Tante, mit für sie ungewöhnlichem Nachdruck.
Adrian war sich nicht sicher, ob er das, was da auf ihn zukam, wirklich wissen wollte. Ihm ging gerade genug anderes durch den Kopf.
«Adrian, was weißt du über deinen Onkel?»
«Wolltest
du
nicht etwas erzählen?», protestierte er. Ihm hatten schon die Fragen seines Professors gereicht. Noch mehr Interaktion überforderte ihn einfach. Als er ihren Blick sah, fügte er zahm hinzu: «Nicht sehr viel. Fischer?»
Rose lächelte. «Dafür haben ihn alle gehalten. Und er war auch ungemein gut in seinem Beruf. Er schien förmlich zu riechen, wo die Schwärme sich aufhielten.» Sie verstummte und schien in Erinnerungen versunken. Adrian betrachtete sie eine Weile aus den Augenwinkeln. Dann stellte er seine Tasse ab. «Wenn du nichts dagegen hast …», begann er. Er fühlte sich alles andere als gut.
«Dein Onkel war ein Schiffbrüchiger.» Rose atmete tief aus. Jetzt war es heraus. Sie schaute ihren Neffen direkt an.
Adrian, der seinen Hintern schon gelüftet hatte, setzte sich wieder. «Ein was?»
«Du hast richtig gehört, ein Schiffbrüchiger. Schiffsunfälle sind nicht selten hier in der Gegend.»
Er wusste, was sie meinte. Jonas und seine Eltern waren einem Schiffsunfall zum Opfer gefallen.
«Er wurde hier angetrieben. Ich fand ihn am Strand. Beim Bootshaus.»
«Wow!» Mehr fiel Adrian dazu nicht ein. Schließlich meinte er: «Das ist ja wie im neunzehnten Jahrhundert, oder?»
«Das ist Küstenschicksal.» Rose lächelte nachsichtig. «Außerdem war ich schon immer ein altmodischer Mensch. Ich nahm ihn auf und pflegte ihn. Obwohl die Broxtoner seinerzeit sehr dagegen waren. Man wusste ja nicht, was man sich da ins Haus holte, sagten sie.»
Adrian nickte. Man war hier schon immer gerne unter sich gewesen und duldete abgesehen von den Touristen, die kamen und wieder gingen, wenig Neues. Er konnte es sich lebhaft vorstellen. «Und?», fragte er schließlich, «was hattest du dir ins Haus geholt?»
«Ein großes Rätsel.» Rose nahm einen Schluck Tee. «Keine Erinnerung, keine Papiere, kein Schiff, kein …» – sie errötete – «in der Tat war er nackt, als ich ihn fand.»
Adrian runzelte die Stirn. Er schnalzte mit der Zunge. «Tante, Tante.»
Sie kicherte. «Die Behörden fanden nie etwas über ihn heraus.»
«Aber er hieß doch Jonas, oder?» Adrian hob die Hände.
«Nach dem Mann im Bauch des Wals, ja. Jonas Ames, das war der Name, den ich ihm gab.»
«Du hast ihn getauft.» Adrian war voller Ehrfurcht. Und auch voller Neid. Rose und Jonas, die beiden hatten einander geschaffen.
«Ich habe ihn getauft», bestätigte Rose stolz. «Und ich habe ihn beschützt vor den Klatschmäulern hier, zeit seines Lebens. Du weißt ja, wessen Urgroßvater nicht hier geboren ist …»
«… und wer sich nicht jedes Wochenende im Siren’s Pub betrinkt …», fügte Adrian hinzu. Sie schauten einander an und lächelten.
Rose nickte. «Der zählt nicht», bestätigte sie. «Für mich war er aber das Einzige, was zählte.» Sie schien etwas auf dem Boden ihrer Tasse zu suchen. «Vielleicht verstehst du jetzt besser, warum du es hier als Kind manchmal nicht leicht hattest. Du stammst nun einmal aus einer komischen Familie.»
Adrian schüttelte nur den Kopf. Rose auf ihrem Felsen, dachte er. «Ich habe hier nie reingepasst. Jonas hätte Bürgermeister in der fünften Generation sein können, und sie hätten mich immer noch schräg angeschaut.»
«Adrian, es tut mir so leid.» Rose ergriff seine Hand.
«Es muss dir nicht leidtun», sagte Adrian, «im Gegenteil: Ich beneide dich, wenn ich ganz ehrlich bin. Ihr habt hier ganz füreinander gelebt.» Er trank den Rest seines Tees und war froh, dass sein Gesicht in der großen Tasse verschwand. ‹Ich lebe für dich›, dachte er. Niemand würde das jemals zu ihm sagen.
Als Ondra zu sich kam, war Aura fort. Die Frau lag immer noch an der Stelle, an der die Nixe sie zurückgelassen hatte. Sie schien am Leben zu sein,
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