Meerestochter
jedenfalls schnarchte sie laut. Ondra war so erstaunt über das Geräusch, dass sie die Gestalt eine ganze Weile anstarrte, ehe sie begriff, was das eigentliche Wunder war: Sie saß hier, an Land, mit zwei Beinen, und die Sonne schien vom Himmel. Erst schaute sie in den blauen Himmel, dann auf ihre Füße. Es dauerte eine Weile, ehe sie begriff, was so falsch an der ganzen Sache war: Die Welt war wie stumm, als hätte jemand den Ton abgestellt. Die Vögel am Himmel waren nichts als kreisende, kreischende Punkte hoch droben. Sie konnte sie hören und sehen, aber nicht fühlen. Sie spürte ihre Lebendigkeit nicht mehr, ihren Bewegungsdrang, ihren Hunger und das Sausen des Windes auf ihren Flügeln. Sie fühlte das Alter des Sandes nicht mehr, nicht das Raunen der Zeit tief im Boden, sondern nur noch das Piken eines größeren Steins an ihrem Hintern.
Ondra hievte sich hoch und zog ihn hervor. Er war grau, spitz und fühlte sich nach gar nichts an. Verärgert warf sie ihn weit von sich. Dann wanderte ihr Blick wieder zu der Frau hinüber: Wie hässlich sie war, wie fremd. Und das Schlimmste: Ondra hatte nicht den geringsten Schimmer, was sie dachte.
Auf allen vieren krabbelte Ondra zu ihr hinüber. Die Fremde roch nach vergorenen Getränken, nach etwas, das Ondra schon als Schweiß hatte bezeichnen hören – Tänzer schwitzten, es war eine eklige Sache, die Meerjungfrauen nicht betraf –, und nach Schlimmerem. Ondra streckte die Hand aus und überwand sich, die Schulter der Frau zu berühren. Aber nichts, sie spürte gar nichts. Die andere hätte genauso gut tot sein können. Wach auf!, befahl Ondra ihr. Ein lautes Schnarchen antwortete. Ondra rief sie erneut; keine Reaktion. Dann stach etwas in ihre Waden, und sie schlug darauf. «Au!» Ein Sandfloh hatte Ondra gebissen. Fassungslos rieb Ondra sich die gerötete Stelle. Sie hatte nichts davon bemerkt, bis es wehtat. Die Fremde grunzte im Schlaf.
Das war die Welt?, dachte Ondra entsetzt. Das war die Welt für die Menschen? Könnte es noch schlimmer sein? Ondra kroch zurück.
Sie stieß gegen etwas Hartes und fuhr herum. Es war der Rucksack, der völlig durchnässt, aber intakt zwischen den Muscheln lag. Mit neu erwachtem Interesse fummelte Ondra daran herum und bekam nach einer Weile die Schnallen auf. Das Ding hatte ein Innenleben. Stück für Stück zog sie heraus, was sich darin verbarg. Das meiste war aus Stoff und hatte grelle Farben. Ondra hielt ein Teil hoch, drehte es zwischen den Händen und verglich es mit dem, was sie an der Schlafenden entdeckte.
Das hier trug man untenrum, eine einfache Röhre; sie ließ viel Bein frei, aber bedeckte den Po. Ondra wusste natürlich, dass sich die Menschen mit Stoff bedeckten. Ihr war nur nicht ganz klar, welche Körperteile und wieso. Aber sie schlüpfte in das kurze Kleidungsstück. Wenigstens schränkte es ihre Beweglichkeit kaum ein, knapp, wie es war. Ondra war ganz zufrieden. Wenn nur das Gelb nicht so hässlich gewesen wäre. Das mit den Streifen, die aussahen wie die eines Clownfischs, zog man sich wohl über den Kopf und dann über den Brustkorb. Es war Ondra etwas zu eng, jedenfalls standen ihre Brüste vor, fand sie. Sie zog den Ausschnitt nach unten und verschaffte ihrem Dekolleté etwas Raum zum Atmen. So würde es zur Not schon gehen. Etwas für die Füße fand sie auch. Hübsch glitzernde Dinger. Aber sie waren unbequem, und so hängte Ondra sie sich nur über die Schulter.
Eine Lederhülse mit kleinen Metallscheiben und nassem Papier darin fand sie uninteressant, eine Flasche mit dem Zeug, nach dem die Frau roch, warf sie hinter die Felsen. Da war noch ein Stück Stoff, sehr klein, fast bestand es nur aus Löchern, einem großen, zwei kleineren, es war dehnbar und schwarz. Ondra überlegte lange, band sich sogar versuchsweise die Haare damit zurück, steckte ihre Arme durch und ließ es wieder sein, musterte noch einmal die Schlafende, die so etwas nicht zu tragen schien, und steckte das Ding dann zurück in den Rucksack. Manche Geheimnisse erschlossen sich einem eben nicht sofort. Sie stand auf. Da fühlte sie ein dringendes Bedürfnis.
Ehe sie noch entscheiden konnte, wonach, lief es ihr bereits warm die Beine hinunter. Ondra war erstaunt und begeistert. Wie gut sich das anfühlte! Wie schön, dass Menschen einen Wasserstoffwechsel besaßen! Dann drang ihr der Geruch in die Nase, und sie beeilte sich, ans Wasser zu kommen und sich zu reinigen. Das war ja furchtbar, eine Katastrophe, hoffentlich,
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