Meerestochter
Gegenzug heftig in Atem hielt. Sie lebte nicht allein, sondern hatte ein gutes Dutzend Kinder und unzählige Enkel. Von den Männern ganz zu schweigen, die sich zu ihr hingezogen fühlten.
Als Ondra allerdings umblätterte, erstarrte sie. Da war der Seekönig mit seinem weißen Bart. Der Dreizack sah albern aus, ebenso wie die Krone aus Korallen und der Kranz von Fischen, der wie ein Heiligenschein um seinen Kopf herumschwamm. Aber das Gesicht, diese Augen, so dunkelblau, dass sie beinahe schwarz erschienen, der strenge Mund, die Nase, all das kannte Ondra nur zu gut. Was sie da vor sich hatte, hätte ein Porträt sein können. Es war erschreckend.
Dann hörte sie die Stimmen. Sie drangen vom Gartentor zu ihr herauf und rissen sie aus ihren Gedanken.
Rose Ames schlug Mr. Morningstar vor, ein paar ihrer Rosen mitzunehmen. «Vielleicht für Ihre Frau?»
«Ich bin nicht mehr verheiratet.»
«Oh, das tut mir leid», sagte sie.
«Wir gehen schon sehr, sehr lange getrennte Wege. Sie sagte immer, sie röche meine Arbeit an mir.»
Einen Moment war es still. Dann hörte man Tante Rose sagen: «Ich kann nur das Meer riechen. Und ein wenig Fisch.»
Er lachte. «Dann ist es abgemacht», sagte er. «Nächstes Wochenende bringe ich Ihnen meinen Fang.»
«Und ich sehe, was ich daraus zaubern kann», stimmte sie zu. Die beiden verabschiedeten sich voneinander.
In der Küche sang Rose vor sich hin. Es war ein altes Lied aus der Gegend, dessen Refrain sie ständig wiederholte und durch die Zeile ersetzte: «Ich bin verrückt. Ich bin verrückt. Lalala, total verrückt.» Schließlich kam ihr der alte Kater aus dem Flur entgegen, fauchte, als sie ein paar Tanzschritte machte, und sprang aufs Fensterbrett.
«Wenn du hier drin bist, ist sie wahrscheinlich oben, was?», sprach Rose ihn an. Sie hatte Tee gekocht und war in freundlicher Stimmung, also beschloss sie, dieser geheimnisvollen Christy eine Tasse davon anzubieten. Im Moment war ihr so seltsam zumute, sie hätte ihr Adrians Hand und das halbe Königreich geschenkt, wenn sie ihr nur bestätigt hätte, dass sie, Rose, keine alte Närrin war. Singend stieg sie die Treppe hinauf.
Sie fand Ondra im Schneidersitz auf Adrians Bett sitzend, mit dem Buch in der Hand, ganz versunken in eines der Bilder, so wie Adrian früher selbst dagesessen hatte, wenn er krank war und drauf wartete, dass sie ihm vorlas. Und wie ein krankes Kind sah sie auch aus, schmal und verfroren, mit Tränenspuren auf den Wangen. Und sie zitterte. Immerzu fror sie, und immer wirkte sie so verloren, wenn nicht gerade Adrian bei ihr war. Irgendwie erinnerte das Rose an jemanden. Sie erschrak. Und im selben Moment wusste sie, dass dieses Gefühl des Wiedererkennens schon sehr lange da war. Sie hatte es nur nicht wahrhaben wollen. Weil es so unglaublich unwahrscheinlich war. Und weil es wehtat.
Rose trat leise näher, schaute ihr über die Schulter und sagte betont beiläufig: «Ach, das ist mein Lieblingsbild.» Sie hielt Ondra die Tasse hin. Sie bemühte sich, ruhig zu wirken, aber der Löffel klirrte gegen das Porzellan.
«Wer ist das?», fragte die Nixe. Dankbar griff sie nach dem Tee.
«Das?» Rose stellte ihre Tasse ab, setzte sich neben sie und nahm ihr das Buch aus der Hand. Sie glättete die Seite liebevoll. «Das ist mein Mann», sagte sie. «Das heißt, das war er. Jonas Ames. Ich habe ihn porträtiert, an einem Abend, als er neben dem Herdfeuer saß. Er saß gerne am Feuer, er fror immer sehr. Ungewöhnlich für einen Mann.» Sie warf Ondra einen prüfenden Blick zu. «Aber für mich war er ein ganzer Mann. Und der Inbegriff der See.» Sie betrachtete ihr Werk mit schräggeneigtem Kopf.
«Und das da?», fragte Ondra und zeigte vage auf Zepter und Krone.
«Oh, das muss sein, so gehört es sich für den Meerkönig.» Rose lächelte. «Das ist ein Märchen von Andersen, kennst du es?»
Ondra überlegte, dann schüttelte sie den Kopf. «Ich habe nicht viel gelesen», sagte sie. «Bisher.» Sie überlegte wieder. «Vielleicht sollte ich es für Adrian tun.»
Rose betrachtete sie. «Du solltest es für dich tun, Christy», beschied sie streng. Auffordernd streckte sie dem Mädchen das Buch entgegen.
Ondra zögerte, ehe sie es nahm. «Danke», sagte sie und legte es beiseite, ohne Rose anzusehen.
Die betrachtete sie eine Weile. Dann sagte sie, im Ton einer Feststellung: «Du kannst nicht lesen.»
«Nein», gab Ondra flüsternd zu. Dann schaute sie auf, zum Fenster hinaus. «Ich kann eine ganze
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