Meerestochter
geht?» Er wusste, dass er unfair war. Er wusste, dass er ihr wehtat. Aber ein Teil von ihm genoss es im selben Moment. Er wollte hart sein, wollte um sich schlagen, etwas kaputt machen. Es war einfach alles zu viel für ihn. «Ach», fasste er die Sachlage zusammen und wandte sich ab.
«Adrian?»
Ihre Stimme nervte ihn. Sein schlechtes Gewissen nervte ihn. Er war hier doch schließlich das Opfer. «Lass mich in Ruhe», sagte er. «Geh nach Hause. Lies was. Oder quatsch weiter diesen Morningstar voll. Ich brauch mal ’ne Pause.» Trotzig stapfte er davon.
Er wusste, es würde ihm leidtun, bald schon. Und in ihm lauerte bereits eine perverse Vorfreude auf die Versöhnung. Er liebte sie, sie gehörte ihm. Er tat ihr weh, sie würde ihm verzeihen. Es war ein Drama, aber es war das, was er jetzt brauchte. Mit jedem Schritt in die Felswand wurde es Adrian wohler. Als er oben war, sein Atem schnell ging und er schwitzte, war beinahe schon alles wieder gut.
Adrian schaute zurück, wo seine Tante und der Fremde in offenbar angeregtem Gespräch auf der Decke saßen. Der Labrador, Harvey, schwänzelte in lockerem Trab zwischen den Bäumen herum und winselte nach Christy. Von ihr war nichts zu sehen. Adrian spürte einen kleinen Stich. So schnell hatte sie sich abgefunden? Ob sie beleidigt war? Erschüttert? Egal, er würde es wiedergutmachen. Es ging ihm schon um einiges besser. Locker schob er die Hände in die Hosentaschen. Dort knisterte ein Zettel.
Er zog ihn heraus. Es war eine Notiz seiner Tante. Maud anrufen!, stand da. Na warte, dachte Adrian. Für dich bin ich jetzt gerade in der richtigen Stimmung. Und er beschloss, umgehend in die Stadt zu gehen und mit seiner Ex, wie er sie im Geiste bereits nannte, ein Wörtchen zu reden. Endlich Klartext. Danach würde er im Siren’s Pub eine Extraportion Chips für Christy besorgen. Wo sie doch Kartoffeln so mochte. Sie war schon ein skurriles, seltsames, wunderbares Ding. Und er liebte sie grenzenlos.
Adrian ging los. Er konnte es kaum erwarten, all das Maud mitzuteilen.
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26. Kapitel
Ondra schaute kurz auf, als sie die Stimmen am Tor hörte. Adrian hatte gesagt, sie sollte nach Hause gehen und lesen. Und in ihrer blinden Verzweiflung war ihr nichts anderes eingefallen, als dem Befehl einfach Folge zu leisten. Ihr eigenes Zimmer wurde ihr bald zu eng und einsam, also schlich sie in Adrians hinüber. Hier konnte sie immerhin die Zeichnungen, die er gemacht hatte, betrachten und die von ihm geschriebenen Buchstaben mit dem Finger nachfahren. Hier hing in der Bettdecke noch sein so vertrauter Geruch. Hier fühlte sie sich ihm nahe und so umgeben von seiner stummen Anwesenheit, dass sie beinahe ein wenig getröstet war.
Die Aufzeichnungen, die überall auf den Tischen und Stühlen herumlagen, sagten ihr wenig, also ging sie die Regale entlang und betrachtete, was sie dort fand. Natürlich gefiel ihr der Korallenstock. Die Puppen verwunderten sie, und sie probierte ein paar der bunt emaillierten arabischen Armbänder, die in einer Vitrine lagen, Mitbringsel eines entfernten Verwandten von einer Orientreise. Schließlich entdeckte sie das Buch. Die Farben faszinierten sie gleich, und als sie den Titel entziffert hatte, zog sie es neugierig auf ihren Schoß. In die Kissen gekuschelt, schlug Ondra
Die kleine Meerjungfrau
auf. Die vielen Buchstaben überforderten sie, zumal die Lettern altmodisch und verschlungen waren. Sie hielt sich an die Bilder und verfolgte die Geschichte, die sie erzählten. «Die Meerhexe», murmelte sie, als das Bild der bösen Zauberin auftauchte, die der Nixe ihre Stimme nahm. Von diesem Umstand ahnte sie nichts, aber es war zu sehen, dass die Alte grausam und voller Hintergedanken war. Ihr Medusenhaar bestand aus Schlangen, und ihre Augen leuchteten rot wie Korallen inmitten all des Meerblaus, wie sie da aus ihrer Einsiedlerhöhle starrte.
Ondra war fasziniert. Allerdings hätte sie gelacht, hätte man ihr erzählt, dass dieses Wesen eine Personifikation von Auras Mutter sein sollte. Sie hatte Oa, Auras Mama, nie persönlich kennengelernt, denn die zog es vor, in wärmeren Meeren zu leben. Aber nach allem, was man hörte, hatte sie weder Warzen noch grüne Zähne und war auch nicht besonders hässlich. Ihr Haar war braun wie ihre Augen, und sie war eine eher dickliche als spinnenfingrige, eine gutmütige und sehr geschäftige Frau, die die Geheimnisse, die sie verwaltete, zum Wohle einer großen Gemeinde anwendete, die sie im
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