Meerestochter
Kapitel
«Au!», rief Ondra. «Sie tun mir weh.»
Morningstar richtete sich mit hochrotem Kopf auf. Es war eng und stickig in der Kabine, in der sie eingezwängt waren, und das grelle Licht setzte ihnen zu. «Das ist ein Reißverschluss», sagte er, «ein stinknormaler Reißverschluss. Jede Frau kann mit so etwas umgehen.»
«Ich bin keine Frau», gab Ondra pampig zurück.
«Darf ich, Sir?» Routiniert drängte die Verkäuferin sich an dem älteren Mann vorbei und schloss Ondras Kleid. «So. Wunderbar», kommentierte sie, als Ondra sich unsicher vor dem Spiegel drehte und mit den Händen über ihre Schenkel fuhr. «Damit sehen Sie wie ein Model aus.»
Morningstar schnaubte. Ob Frau oder nicht, posieren konnte sie jedenfalls. «Wir nehmen es», erklärte er. «Und die beiden Jeans, die Shirts, den roten Pulli und» – er wedelte in Richtung einiger Dessous – «das restliche Zeug hier. Ach ja, und die drei Paar Schuhe.» Er seufzte. Die Idee, der Nixe etwas zum Anziehen zu kaufen, war ihm gut und richtig erschienen. Sie konnte schließlich nicht ewig mit den abgelegten Sachen von Rose und Adrian herumlaufen, das ging vielleicht in Broxton, aber hier in der Stadt würde sie damit auffallen. Also hatte er ein Kaufhaus angesteuert. Die Probleme begannen erst, als diese Christy einfach mitten im Laden stehen blieb, sich unsicher zu ihm umwandte und ihn fragte:
«Was soll ich denn nehmen?»
Das war absolut untypisch, so ein Verhalten kannte er weder von seiner Ex noch von seinen inzwischen erwachsenen Töchtern. Frauen und Mode, das war ein Selbstläufer; brachte man Frauen in die Nähe von Kleidern, dann wurden sie wach und aktiv, und als Mann brauchte man sich nur einen gemütlichen Sitzplatz zu suchen.
«Keine Ahnung», hatte er entsetzt erwidert und beim Anblick der vielen Fächer und Ständer erste Anzeichen von Panik entwickelt. Bis die Verkäuferin mit der Platinfrisur ihn erlöst hatte.
Jetzt zog sie die Brille von ihrer Nase, ließ sie an der Kette auf ihrem beträchtlichen Busen ruhen und betrachtete Morningstar kühl. «Benötigt Ihre ‹Nichte› sonst noch etwas, Sir?»
Die Wortwahl brachte ihn ebenso auf wie der Ton. Im selben Moment sah er durch einen Spalt in der Kabinentür, wie Ondra sich wieder aus dem Kleid schälte. Er wurde rot. «Das ist nicht meine ‹Nichte›», protestierte er, «das ist, das ist, das ist …» Energisch zog er die Kabinentür zu. Dann holte er ein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn. Er kapitulierte. «Wir möchten zahlen», sagte er.
«Gern, Sir.» Ihr Tonfall verriet Morningstar, dass sie ihm noch zwei Monate bis zum Herzinfarkt gab. Maximal. Und dass sie ihm das gönnte. Sie gingen gemeinsam zur Kasse, und er reichte ihr seine Kreditkarte.
«Danke, Sir.»
Ondra trat aus der Kabine; sie trug eines der neugekauften Sommerkleider, ein grünes Hängerchen im Empire-Stil. Ihr Haar hatte sie mit Hilfe der chinesischen Essstäbchen aufgesteckt, die sie in Morningstars reich bestückter Küche gefunden hatte. Sie sah hinreißend aus. Morningstar hielt ihr zwei Armvoll Tüten entgegen. «Sie könnten tragen helfen», sagte er.
Mit einem Griff nahm Ondra ihm sämtliche Taschen ab. Nicht zum ersten Mal staunte er, wie kräftig sie war, trotz ihrer zarten Statur. Er fragte sich, wie lange am Stück sie wohl rennen konnte, welche Atemfrequenz sie dabei hätte und wie ihr Puls anstieg. Er musste beinahe laufen, um mit ihr Schritt zu halten. «Um noch einmal auf die Computertomographie zurückzukommen», begann er, «es wären nur ein, zwei Stunden in einer Röhre, nichts, was wehtut. Wir wären ganz allein, und ich würde mich natürlich verpflichten, alle dabei gewonnenen Daten streng vertraulich …» Beinahe wäre er gegen Ondra geprallt, als diese abrupt stehen blieb.
«Was ist das?», fragte sie.
Er schaute. «Das ist ein Kreisverkehr», stellte er fest. «Bisschen viel los, das gebe ich zu. Liegt daran, dass jetzt Mittag ist. Berufsverkehr.»
«Nein, das meine ich nicht. Die vielen Leute.» Sie hob ihre beladenen Arme, dass die Plastiktüten raschelten. «Da wird einem ja schwindelig.»
Morningstar legte den Kopf schräg. Er musste zugeben, es war viel los heute auf der Hauptstraße. Die Menschen liefen schnell, ballten sich, kreuzten und überholten einander. Nippten an ihren Coffees-to-go, gestikulierten, telefonierten, standen Schlange. Die Autos fuhren vierspurig, dazwischen die Roller und Fahrräder. Man hupte, Motoren heulten auf. Alles in
Weitere Kostenlose Bücher