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Meerestochter

Meerestochter

Titel: Meerestochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena David
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allem aber ging es recht gesittet zu. Es war nicht mehr als ein – wenn auch brodelnder – Mittelstadtverkehr. Wenn man natürlich nur Broxton kannte …
    «Warum?», fragte er. «In jedem Riff ist mehr los. Jeder beliebige Heringsschwarm hat mehr Individuen.»
    «Ein Heringsschwarm hat gar keine Individuen.» Ondra schüttelte den Kopf. «Er ist ein Schwarm. Er ist pure Harmonie. Nie stoßen zwei aneinander. Sie sind miteinander verbunden. Aber das hier …»
    «Oh, es mag wie Chaos aussehen», erwiderte Morningstar, «aber es folgt seinen Regeln. Wollen wir uns in ein Café setzen, dann können Sie es sich eine Weile betrachten. Die Autos, zum Beispiel, befolgen die Straßenverkehrsordnung. Die Menschen zum Teil übrigens auch, und …»
    «Ja, aber sie stoßen zusammen», sagte Ondra. Im selben Moment krachte es auf der Straße.
    «Na ja, das kommt vor», gab Morningstar zu. «So ein Unfall …» Die Kontrahenten stiegen aus und betrachteten den Blechschaden. Hinter ihnen im Stau wurde gehupt. Es bildete sich eine Traube von Schaulustigen.
    «Das meine ich nicht.» Ondra wies in eine andere Richtung. «Der Mann da hat den anderen an der Schulter gestoßen, und da, sehen Sie.» Sie zeigte auf zwei Frauen, die einander im Weg standen. «Und da.» Ein Jugendlicher auf dem Skateboard bremste einen Mann mit Krawatte und Kaffeebecher so abrupt aus, dass der sich bekleckerte. «Es ist das reinste Chaos.»
    Morningstar überlegte. «Wie machen die Fische das, dass sie nicht aneinanderstoßen? Beim Richtungswechsel zum Beispiel.»
    Ondra schaute ihn an. «Sie
machen
es nicht», sagte sie. «Was für eine lustige Vorstellung.» Sie musste kichern.
    Morningstar zog die Stirn in Falten. «Das ist keine besonders befriedigende Antwort», erklärte er.
    Ondra bemühte sich. «Es kann ihnen einfach gar nicht passieren, verstehen Sie. Alle stehen miteinander in Verbindung. Aber die Menschen …» Sie zuckte mit den Schultern. «Jeder allein, blind. Wie eine Handvoll Murmeln, die einer geworfen hat. Kein Wunder.»
    «Also, ich bitte Sie.» Morningstar bekam nun doch das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. «Wir sehen und hören doch immerhin. Und wir riechen, fühlen und schmecken, na ja, die letzteren Sinne kommen im Straßenverkehr nicht so zum Tragen, und das mit dem Hören … also, wenn ich an den Musikgeschmack von manchen Leuten denke … Ich persönlich glaube ja manchmal, wir sind mehr mit Ausblenden beschäftigt als mit Zuhören, aber … oh, guten Tag, Knightley.» Er hielt inne, um den Inspektor zu grüßen, der erfreut seine dunklen Brauen in dem blassen Gesicht hob.
    Knightley wandte sich auch Ondra zu. «Menschen als Murmeln?», fragte er.
    Morningstar gab sich aufgeräumt. «Oh ja, Lebewesen in Kugelform, das kommt in einer der Welten vor, die Gulliver aufsucht, erinnern Sie sich, Knightley? Meine Nichte und ich, wir sprachen gerade über Swift.»
    Knightley nickte vage. «Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Nichte haben.»
    Morningstar lachte. «Die Polizei weiß eben nicht alles, mein Bester. Aber nein, Sie haben recht, Christy ist die Tochter einer langjährigen Freundin. Sie ist quasi mit meiner Jüngeren zusammen aufgewachsen, Jane, erinnern Sie sich? Und bei uns im Haus gilt sie praktisch als Verwandte. ‹Nichte› sagt sich einfach schneller.» Er verstummte in dem Gefühl, schon zu viel gesagt zu haben.
    «Ich verstehe.» Knightley wandte sich an Ondra. «Sagen Sie, Miss, äh …»
    «Waters», ergänzte sie, inzwischen beinahe routiniert. «Christy Waters.» Sie lächelte ihn an.
    Unwillkürlich lächelte Knightley zurück.
    Morningstar verdrehte die Augen. Es mochte ja sein, dass Ondra ihr Sirenenlied nicht mehr singen konnte. Aber eine Ahnung ihrer früheren überwältigenden Anziehung war noch immer zu spüren.
    «Sagen Sie», fuhr Knightley fort, nachdem er es geschafft hatte, Bilder von tanzenden Nymphen aus seinem Hirn zu vertreiben, die dort nichts zu suchen hatten, «sind Sie nicht die junge Dame, die sich bei den Ames in Broxton aufhielt?» Er suchte nach seinem Notizbuch und blätterte darin herum. «Eine Miss St. Aubry hat mir so etwas erzählt.»
    «Das ist richtig, ja.» Ondra nickte und setzte die Tüten ab, um eine lose gewordene Strähne festzustecken. Ihr Haar löste sich und breitete sich aus wie ein Seidenvorhang, und sie hob die Hände, um es mit einer raschen Bewegung wieder zusammenzufassen. Knightley und Morningstar standen da, Letzterer gebückt, um die Tüten am

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