Meerhexe
sagt er gedehnt. »Ich wollte noch...« Er zeigt unbestimmt zum Computer. »Bevor meine Mutter heimkommt, weißt du. O Scheiße, sie ist jeden Moment da!«
»Alles klar.« Ich nicke. »Ich gehe jetzt.«
Torsten entfernt zuerst Lara vom Bildschirm, dann lässt er mich hinaus. »Jetzt hast du mal ein paar Spiele gesehen«, sagt er gönnerhaft. Den Blick kriegt er wie vorher kaum höher als bis zu meinen Knien. Er ist nun wieder der schüchterne Junge, der bei meiner Oma die Zehen eingeringelt hat.
Armes Würstchen, denke ich und ersticke schier an dem Kloß aus Frust in meinem Hals. Digitaler Vollidiot! Aber ich sage es nicht. Meine gute Erziehung ist stärker. Und auch der Knödel, der mich am Sprechen hindert.
»Tschüs«, murmle ich. Dann laufe ich weg.
Fast bin ich so weit, mich von Onkel Bangemann trösten zu lassen. Außer meinem Vater ist er der Einzige, der mich mit Wohlwollen mustert. (Dass mich U. Falkenhauser bei der Rollenvergabe ähnlich angeschaut hat, muss einen anderen Grund gehabt haben: U. Falkenhauser hat sein Monster gefunden.) Ich bin schon auf dem Weg zu Oma, als ich doch noch die Kurve zur Haltestelle kriege. Nein, so tief darf ich nicht sinken, dass ich mich mit den gütigen Blicken eines älteren Herrn zufriedengebe! Oder mit Omas Lob meines Verstandes. Falls ich wirklich einen habe, einen Verstand, muss jetzt etwas geschehen.
Und dort an der Haltestelle, in den paar Minuten, bis die Bahn kommt, fasse ich einen Entschluss: Ich will mein Aussehen nicht mehr bejammern, sondern ändern. Jawohl.
Es ist nicht leicht, an einem heißen Spätnachmittag im Juli und nach zwei Tiefschlägen hintereinander und an einer stinkenden, verkehrsreichen Straße schwerwiegende Entschlüsse zu fassen. Ich bewundere mich dafür, dass ich es trotzdem tue. Niemand sieht es mir an. Ich sitze einige Minuten später auf dem klebrigen Kunstledersitz in der Bahn, gucke an den Leuten vorbei und beginne ein neues Leben.
Es ist ja ganz einfach. Ich muss nur mit meinem Vater joggen und den Ernährungsfahrplan meiner Mutter befolgen. Wenn sie Joghurt für mich vorsieht, darf ich mich nicht hinterher heimlich mit sieben Schokocremebroten vollstopfen.
Ich sehe mich schon völlig verändert aus den Sommerferien in die Schule zurückkehren, schlank und hochmütig, man wird mich kaum wiedererkennen. U. Falkenhauser wird über mein Aussehen verzweifeln. Wenn er eine fette Meerhexe haben will, muss er mich mit Sofakissen auspolstern!
Ha, das sind vielleicht wohltuende Gedanken! Jetzt ist es nur schade, dass ich mich noch bis zum Ferienbeginn (drei Tage) mit meinem alten Selbst in der Schule zeigen muss, wo innerlich doch schon mein neues Selbst begonnen hat, was man aber äußerlich nicht sieht. Nicht zu ändern, leider, und deshalb fasse ich neben dem großen Entschluss noch einen kleineren. Nämlich den, dass ich mein neues Leben nicht jetzt auf der Stelle, sondern genau am Morgen des ersten Ferientages beginnen werde. Das ist der richtige Zeitpunkt.
Meine Eltern sehen die Sache mit der Meerhexe ganz anders.
Sie behaupten, ich verdanke es meiner sicheren und gewaltigen Stimme, dass ich diese wunderbare Rolle bekommen habe.
Darin sind sie sich völlig einig.
Dabei brauche ich doch schon gar keinen Trost mehr! Sie sollen lieber U. Falkenhauser trösten und ihm ein paar Sofakissen spendieren.
Ich grinse im geheimen Wissen um mein neues Aussehen, von dem man noch nichts ahnt, und mein Vater schließt mich spontan in die Arme. »Ich freu mich für dich, Lenchen«, flüstert er.
Was mich dabei ein wenig beunruhigt, ist sein Kuschelbäuchlein, es ist immer noch da. Wo er doch seit Wochen schwitzt und rennt! Das wird hoffentlich bei mir nicht genauso sein - ich will mich nicht abstrampeln wie eine Blöde und dann trotzdem meine Monsterfigur behalten!
Als ich meinen Vater beim Abendessen beobachte, kommt mir die Erleuchtung. Natürlich kann er nicht abnehmen, solange er solche Mengen an Nahrung verdrückt!
Ich kriege eine richtige Wut auf meine Mutter. Sie kocht für drei, isst selbst heimtückischerweise nur ein Häppchen und lässt uns beide ihre Portion mitfuttern. Was denkt sie sich eigentlich dabei?
Etwas ist heute Abend übrigens anders als sonst. Mein Vater hat beim Hereinkommen seine Hand gewohnheitsmäßig nach dem Telefonhörer ausgestreckt, sie aber wieder zurückgezogen. Kein Blick auf das Display! Er muss sich was vorgenommen haben - aber was?
Als er seinen Teller leer gegessen hat, schaut er plötzlich in
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