Meg Finn und die Liste der vier Wünsche
vor zwei Jahren, als er in einer sich vergrößernden Blutlache auf dem Boden gelegen hatte. Da war ihm schlagartig klar geworden, dass er sterben würde. Vielleicht nicht in dem Moment, aber irgendwann. Er verlor das Interesse am Leben. Wozu das Ganze? Um in den Himmel zu kommen? Blödsinn. Wenn es schon auf der Erde keine Gerechtigkeit gab, dann unter ihr bestimmt erst recht nicht. Warum also all die Mühe? Was nützte es, gut zu sein? Auf diese Frage hatte Lowrie noch immer keine Antwort gefunden. Und solange er die nicht fand, erschien ihm alles andere sinnlos.
Lowrie hatte genug davon, aus dem Fenster zu starren, und beschloss, es mit Fernsehen zu versuchen. Das Nachmittagsprogramm – die Beschäftigung der Beschäftigungslosen. Nach fünf Minuten Grundkurs im Aquarellmalen und Kochen für Genießer kam er zu dem Schluss, so verzweifelt sei er nun doch noch nicht, und schaltete die Kiste wieder aus. Der Garten. Er würde ein bisschen Unkraut jäten.
Aber natürlich hatte sein Bein Recht gehabt, und Regen begann auf den winzigen Fleck herunterzuprasseln, den die Stadtverwaltung munter als »Grünzone« bezeichnete. Lowrie seufzte. Würde denn nichts je wieder in Ordnung kommen? Wo war der stets zu Scherzen aufgelegte, elegante Mann geblieben, der er einst gewesen war? Wohin war sein Leben verschwunden?
Lowrie hatte so viel Zeit damit zugebracht, über diese Fragen nachzudenken, dass er immerhin ein paar Schlüsselmomente in seinem Leben ausgemacht hatte. Momente, in denen er sich zwischen zwei Dingen hatte entscheiden müssen und in denen er das Falsche gewählt hatte. Eine Litanei von Fehlern. Eine Liste von Hätte, Könnte und Sollte. Aber es nützte nichts, weiter darüber nachzudenken. Er konnte eh nichts mehr daran ändern. Er legte die Hand auf den Brustkorb und spürte das Pochen seines Herzens. Jetzt erst recht nicht mehr.
Wie also sollte er diesen fantastischen Tag ausklingen lassen? Vielleicht ein paar Medikamente nehmen? Zum Kiosk hinüberhumpeln? Oder – wie aufregend! – für eine Runde Bingo ins Gemeindehaus gehen?
Meg Finn wurde aus dem Jenseits genau in Lowrie McCalls Sessel geschleudert. Und da sie nicht mehr LOCH dachte, war er für sie genauso massiv wie für jeden Sterblichen. Unter dem quietschenden Protest der Sprungfedern segelte der Sessel auf seinen Messingrollen quer durch das Zimmer.
Lowrie zuckte zurück – nicht vor Schreck, sondern weil der rollende Sessel den Stock unter ihm wegschlug. Er verlor das Gleichgewicht und versuchte im Fallen, sich am Bücherregal festzuhalten. Keine gute Idee. Das toplastige Regal neigte sich über den erlaubten Winkel hinaus und krachte über dem alten Mann zusammen.
Danach herrschte eine Weile verwirrte Stille. Benommen starrte Meg auf die Staubkörnchen, die aus dem alten Kissen aufstiegen. Staub. Echter Staub. Aus der echten Welt. Sie war wieder zurück. Vielleicht war sie ja nie weggewesen. Der Sessel fühlte sich ziemlich real an. Eine mögliche Theorie: Belchs Schrotladung hatte sie durch das Fenster des alten Lowrie geblasen, und sie war auf dem Sessel gelandet. Hmm. Nicht sehr überzeugend. Die Logik hinkte. Trotzdem erschien ihr der Gedanke nicht unglaubwürdiger als Tunnelwände, durch die man gehen konnte, lila Spektralschweife und Würmer mit Sprachproblemen.
Endlich klärte sich Lowries Blick. »Du?«, ächzte er unter einem Stapel National Geographie hervor. »Meg Finn!«
»Hmm?«, entfuhr es Meg.
»Aber du bist doch tot. Ich habe die Leiche gesehen!« Aha. Wieder eine Theorie im Eimer. »Meine Leiche?«
»Ja. Kein schöner Anblick, kann ich dir sagen.«
Meg verzog das Gesicht. Sie musste ziemlich übel ausgesehen haben, als man sie von dem Gastank gekratzt hatte.
»Wie sah ich denn aus?«
»Von den Zähnen war nicht mehr viel übrig.«
In dem Augenblick wurden Lowrie zwei Dinge bewusst. Erstens: Er unterhielt sich mit einer Toten. Zweitens: Er bekam keine Luft mehr!
»Und wie sehe ich jetzt aus?«, fragte Meg nervös.
»Iiiihhhh«, keuchte Lowrie, dessen Stirn bereits bläulich angelaufen war.
»So schlimm?«
Der alte Mann, der keinen Atem mehr zum Plaudern hatte, stieß mit dem Finger gegen das schwere Bücherregal, das ihm auf der Brust lag.
Der Groschen fiel. Meg schwang sich aus der tröstlichen Gemütlichkeit des echten, greifbaren Sessels und stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen das Regal. Das massive Kiefermöbel wirbelte hoch und flog durch die Luft wie ein Bierdeckel von einer Bartheke. Es hatte sie
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