Mehr als Ja und Amen - Doch wir koennen die Welt verbessern
nachdenken, verstehen können, fragen dürfen. Stattdessen wird der Religion bis heute die Haltung unterstellt: nicht fragen, schlicht glauben! Fundamentalismus – ob jüdischer, christlicher, islamischer oder hinduistischer Prägung – mag Bildung und Aufklärung nicht. Jedweder Ausprägung von Fundamentalismus stellt sich eine Kernbotschaft der Reformation entgegen: selbst denken! Frei bist du schon durch die Lebenszusage Gottes. Im Gewissen bist du niemandem untertan und unabhängig von Dogmatik, religiösen Vorgaben, Glaubensinstanzen. Vielleicht ist einer der wichtigsten Beiträge der Reformation, dass es ihr um gebildeten Glauben geht, einen Glauben, der verstehen will, nachfragen darf, auch was das Buch des christlichen Glaubens betrifft, die Bibel. Es geht nicht um Glauben allein aus Gehorsam, aus Konvention oder aus spirituellem Erleben. Sondern es geht um das persönliche Ringen um einen eigenen Glauben.
Vor einigen Jahren habe ich dem Chefredakteur von „Runner’s World“ ein Interview gegeben. Interessanterweise wurde in unserem Gespräch für uns beide offensichtlich, dass Glaube und Sport zueinander passen: Laufen als spirituelle Erfahrung, Körperwahrnehmung als Teil der Schöpfung. Jahre später hat Frank Hofmann ein Buch mit dem Titel „Marathon zu Gott“ 16 geschrieben. Er beschreibt seinen eigenen Weg zurück zum Glauben als lange Auseinandersetzung, als Herausforderung, bei der er den Verstand, der ihn einst vom Glauben wegführte, „wieder in die umgekehrte Richtung (…) bewegen“ 17 musste.
Das finde ich großartig: Reformatorischer Glaube mit der Prämisse des Wortes zeigt, dass wir im säkularen Zeitalter den Verstand nicht aussperren müssen, sondern ihn nutzen dürfen, um glauben zu können. Wenn ich an das Reformationsjubiläum 2017 denke, wird das eine der zentralen Botschaften sein: Luther weniger als Tröster der Deutschen oder Nationalheld wie bei früheren Gedenkfeiern, sondern Luther und die anderen Reformatoren als Denkende, die Glauben und Verstand vereinen und auf genau diese Weise jedem Fundamentalismus trotzen, sei er religiöser oder ideologischer Natur. Vielleicht ist das für das Reformationsjubiläum 2017 die zentrale Botschaft: Es geht nicht um Glauben als Moralinstanz, sondern als radikale Freiheit zur Einmischung in die Welt.
Luther regte in seinem Brief an den christlichen Adel deutscher Nation die Volksschule für alle an. Er wollte, dass jeder Mensch gebildet sein kann, gleich welcher Herkunft, gleich welchen Geschlechts. In einem Land, in dem heute junge Leute ohne Schulabschluss chancenlos sind, ist das eine hochaktuelle Botschaft! Gerade erst wird wieder belegt, wie eng soziale Herkunft und Bildungsabschluss in Deutschland zusammenhängen. „Laut dem jüngsten OECD-Bericht haben 22 Prozent der jungen Menschen in der Bundesrepublik nicht das Bildungsniveau ihrer Eltern. Nur 20 Prozent der Jüngeren schafften einen höheren Bildungsabschluss, als ihn Vater oder Mutter besitzen.“ 18
Selbst lesen können, die Heilige Schrift in der eigenen Sprache studieren oder auch in der Originalsprache der Verfasser. Verstehen, nachdenken, sich eine Meinung bilden – das war damals revolutionär. Und vielleicht müssen wir sagen, dass das 25 Jahre nach der Einführung des Privatfernsehens heute auch wieder revolutionär ist! Es scheint sich alles zu verflachen, auch im sogenannten öffentlich-rechtlichen Fernsehen, für das wir alle GEZ-Gebühren zahlen. Und: Wer liest denn noch, geschweige denn, die Bibel …
Gut, manchen erscheint das Christentum in seiner reformatorischen Variante dadurch anstrengend, zumal in einer Medienwelt schwer vermittelbar. Wo kommen wir denn hin, wenn jeder nachfragen und sich eine eigene Meinung bilden soll? Da ist die glasklare Meldung schnell dahin. Aber diesen Preis müssen die Kirchen der Reformation zahlen. Vielfalt und Freiheit sind ihre Grundlagen. Sie haben längst gezeigt, dass das Wort öffnet, hin zum eigenen Fragen, Denken, Interpretieren, Stellung nehmen. Allerdings nicht anonym, ohne zum eigenen Wort zu stehen, wie es heute in Blogs so oft geschieht, sondern offen, frei und mit Namen, selbstbewusst. Und: Mit Respekt für andere Meinungen und nicht in menschenverachtendem Ton, wie er dort manches Mal ebenso herrscht. Eigenes Denken sollte es aber in der Tat sein. Oh ja, das kann am Ende möglicherweise auch politisch sein, provokativ, vielleicht sogar einseitig.
Freiheit ist also gebildete Freiheit, die nachdenkt,
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