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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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Wer macht ihm das Leben schwer? Nennen Sie mir Namen, ich will Namen hören .
    »Wie denn zum Beispiel?«, fragt Bob.
    »Na ja, als er gestanden hat, hat ihm jemand den Stuhl weggezogen, sodass er, als er sich wieder setzen wollte, auf den Boden gefallen ist. Einmal hat jemand einen Schokoladen-Muffin auf seinen Stuhl gelegt, und als er mit seiner Arbeit fertig war, hat er sich daraufgesetzt. Sie haben ihn damit aufgezogen und gesagt, die Schokolade sei Kacka. Sie haben ihn Hosenscheißer genannt.«
    Ich fühle mich, als hätte mir Ms. Gavin eben mit ihrem hässlichen Schuh gegen die Brust getreten. Mein armer Charlie. Ich sehe an Ms. Gavin vorbei, und mein Blick fällt auf die Tafel mit den »Rechtschreibstars«. Charlies Foto ist in die Reihe der Schüler aufgenommen worden. Seine Augen sind zusammengekniffen, so übertrieben breit lächelt er. Auf der Tafel sind außerdem vier Fotos von anderen Jungen zu sehen. Sie lächeln ebenfalls. Noch vor einer Minute hätte ich gesagt, das sind alles entzückende kleine Jungen, aber jetzt sehe ich nur noch eine Gang lausiger kleiner Monster. Satansbrut. Warum hat uns Charlie nichts davon gesagt?
    »Was haben Sie dagegen unternommen?«, fragt Bob.
    »Ich tadele die Kinder, die ihn hänseln, wenn ich es mitbekomme, aber ich bin sicher, vieles davon läuft ab, ohne dass ich es bemerke. Und bedauerlicherweise scheinen die Strafen die Jungen nur noch mehr anzustacheln.«
    Ich kann es mir vorstellen. Mündliche Verwarnungen, Pausenverbote oder zum Schulleiter geschickt zu werden – das sind alles Dinge, die nur Öl ins Feuer gießen. Aber es muss etwas geben, was wir tun können. In meinem Kopf beginnen fragwürdige Rachefantasien abzulaufen. Auge um Auge, Kacka um Kacka. Ich übertrage meine ohnmächtige Wut auf den Griff meines Gehstocks. Stockschläge. Gegen Stockschläge hätte ich nichts einzuwenden.
    »Und was jetzt? Soll Charlie das alles etwa einfach erdulden?«, fragt Bob. »Was halten Sie davon, die Kinder, die ihn ärgern, in einen anderen Teil des Klassenzimmers zu setzen?«
    »Das habe ich bereits getan. Damit er, wenn er will, seine Aufgaben im Stehen erledigen kann, ohne dass ihn jemand belästigt. Aber er hat sich entschieden, bei der Arbeit jetzt sitzen zu bleiben. Ich glaube, er will einfach so sein wie alle anderen auch.«
    Ich weiß, wie er sich fühlt.
    »Mir ist klar, dass man dieses Wort in der heutigen politisch korrekten Welt nicht verwenden soll, aber glauben Sie, er wird je ›normal‹ sein?«, frage ich.
    Mein Herz verkrampft sich. Ich weiß, dass ich mich nach Charlie erkundige, aber meine Frage kommt mir vor, als würde ich sie über mich selbst stellen. Werde ich je normal sein? Werde ich je 100 % oben auf meinem Blatt sehen? Ms. Gavin schweigt einen Augenblick, und ich kann sehen, dass sie ihre Worte sorgfältig abwägt, bevor sie den Mund aufmacht. Ich weiß, dass ihre Antwort nur die Meinung einer jungen Lehrerin über einen jungen Schüler sein wird, auf der Grundlage ihrer sehr begrenzten Erfahrung mit ihm. Aber mein Herz, zu dem diese Logik nicht durchdringt, hat das Gefühl, dass die Wahrheit über Charlies und auch mein Schicksal irgendwie doch in dem zu finden ist, was sie im Begriff ist zu sagen – so als würde sie mir meine Zukunft prophezeien. Ich umklammere meinen Stock.
    »Ich denke, dank der Medikamente, der Verhaltensänderungen, der Ernährungsumstellung, die Sie vorgenommen haben, und der ganzen positiven Bestätigung und Unterstützung, die er bekommt, dürfte Charlies ADHS ihn nicht daran hindern, seine schulischen Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Ich zolle Ihnen beiden wirklich großen Respekt dafür, dass Sie so schnell etwas unternommen haben. Viele Eltern hätten mich einfach ignoriert oder jahrelang mir und dem Schulsystem die Schuld gegeben, bevor sie getan hätten, was Sie getan haben, um ihm zu helfen.«
    »Danke. Es ist eine solche Erleichterung, das zu hören«, sagt Bob. »Aber was ist mit den anderen, ganz normalen Kindergeschichten, gehört er dazu?«
    Sie zögert.
    »Unter uns gesagt?«, fragt sie, noch immer zögernd. »Ich habe eine Schülerin, die sich zwanghaft die Nägel bis zur Unkenntlichkeit abkaut, einen Schüler, der es einfach nicht lassen kann, in der Nase zu bohren, eine, die ständig vor sich hin summt, während sie arbeitet, und einen, der stottert. Jedes Jahr werden die Kinder mit einem starken Überbiss ›Bugs Bunny‹ genannt und die Kinder mit einer Brille ›Brillenschlange‹. Ich

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