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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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weiß, alle Eltern wollen, dass ihr Kind dazugehört, und niemand hat es verdient, gehänselt zu werden, aber die Erfahrungen, die Charlie macht, scheinen mir für einen Erstklässler durchaus normal zu sein.«
    Ich lache, lasse alle Angst und alle rachsüchtigen Gefühle aus meinem Herzen und ersetze sie durch eine Offenheit und Empathie, die zunächst nur Charlie mit seiner gelben Karteikarte, seinem Murmelbecher, seinen weniger als hundert Prozent und seinem mit Schokolade verschmierten Gesäß gilt. Aber dann dehnt sie sich auch auf diesen ganzen bunten Haufen von Erstklässlern aus, mit all ihren verrückten Ticks, Schrullen und Schwächen. Und schließlich erreicht sie auch Ms. Gavin in ihren hässlichen Schuhen, die die Geduld und den Mut aufbringt, sie jeden Tag zu unterrichten und sich mit ihnen herumzuschlagen. Und weil ich immer noch ein bisschen übrig habe, erstreckt sie sich schließlich auch auf mich. Eine siebenunddreißigjährige Frau, deren Ehemann ihre linke Hand hält, damit sie sich nicht unbewusst an die eigene Brust fasst.
    »Und normal zu sein wird sowieso überbewertet, wenn Sie mich fragen«, sagt Ms. Gavin.
    »Da gebe ich Ihnen recht«, pflichte ich ihr bei.
    Ms. Gavin lächelt. Trotzdem mache ich mir Sorgen um Charlies Zukunft. Wenn die anderen Schüler aufhören, in der Nase zu bohren, und wenn die Kinder mit schlechten Zähnen zu einem Kieferorthopäden gehen und die Kinder mit einer Brille Kontaktlinsen bekommen, wird Charlies ADHS ihn dann weiterhin zu einem Außenseiter machen? Sport ist eine tolle Möglichkeit dazuzugehören, aber Charlie fällt es schwer, zu warten, bis er an der Reihe ist, auf seiner Position zu bleiben und sich an alle Regeln zu halten. Doch all das sind notwendige Fähigkeiten, um beim Fußball, Basketball oder T-Ball erfolgreich zu sein. Er kann sich schon jetzt für keine dieser Sportarten begeistern, aber er ist zu jung, um zu begreifen, dass sie nur freiwillig sind. Wir melden ihn für alles an, was es in seiner Altersgruppe gibt, und er geht so zu den Trainings und Spielen, wie er zur Schule geht – weil wir es ihm sagen und ihn hinbringen. Doch er wird in nicht allzu ferner Zukunft in ein Alter kommen, in dem er sich – wenn sich seine Fähigkeiten nicht verbessern – vermutlich dagegen entscheiden wird. Und er wird all diese Gelegenheiten verlieren, dazuzugehören und dauerhafte Freundschaften zu schließen, die ein solches Team bieten kann. Es ist ein Jammer, dass wir nicht in der Nähe eines Berges leben. In einem Snowboarding-Team würde er vermutlich aufblühen.
    »Machen Sie zu Hause also einfach weiter wie bisher. Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass er sich hier schon so viel besser macht. Ich glaube, Sie alle werden diesmal sehr stolz auf sein Zeugnis sein«, endet Ms. Gavin.
    »Danke. Das werden wir bestimmt«, sagt Bob.
    Während unserer Besprechung hatten die Kinder aus Charlies Klasse Pause und haben draußen gespielt. Da sie noch ein paar Minuten Zeit haben, bevor sie in ihr Klassenzimmer zurückkehren müssen, beschließen Bob und ich, hinüberzugehen und Charlie kurz Hallo zu sagen, bevor Bob erst mich nach Hause und dann wieder zur Arbeit fährt. Wir haben eben das Ende des langen, gepflasterten Fußwegs erreicht, als uns ein Riesentumult, der in der Nähe der Schaukeln ausbricht, innehalten lässt. Es sieht aus, als ob zwei Kinder sich prügelten und ein Lehrer alle Mühe damit hätte, die Streithähne zu trennen. Das komplette restliche Treiben auf dem Spielplatz ist mitten in der Bewegung erstarrt: Alle wollen sehen, was passieren wird. Von dort aus, wo Bob und ich stehen, kann ich die Gesichter der beiden Kinder nicht sehen, aber bereits im nächsten Augenblick erkenne ich eine der beiden Jacken. Charlies orangefarbene North-Face-Skijacke.
    »Charlie!«, brülle ich.
    Bob lässt meine linke Hand los und sprintet auf Charlie zu. Alle Muskeln meines Körpers wollen ebenfalls zu Charlie laufen, aber mein beschädigtes Gehirn lässt es nicht zu. Mein Kind schwebt in Gefahr, hat Ärger – oder beides – und ist in Sichtweite, aber ich kann nicht zu ihm, um ihn zu retten oder mit ihm zu schimpfen. Bob liegt jetzt mit Charlie auf dem Boden, und der Lehrer zerrt das andere Kind an der Hand weg. Ich schleppe mich an meinem Gehstock vorwärts und bin bei jedem Schritt mit dem Stock frustriert, bei jedem Nachziehen des Beins ungeduldig. Ich bin wütend auf mich, weil ich nicht schon dort bin.
    »Was ist denn passiert?«, frage ich,

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