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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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eigener Willenskraft konnte ich sie nicht loslassen). Daher ist es zwar gut möglich, dass Bob meine Hand hält, um mich liebevoll zu unterstützen, doch vermutlich will er eher verhindern, dass ich mich vor Ms. Gavin begrapsche. Aber was auch immer der Grund ist, ich bin ihm auf jeden Fall dankbar.
    »Wir sind ja alle so froh, dass Sie wieder zu Hause sind, Mrs. Nickerson«, sagt Ms. Gavin.
    »Danke.«
    »Wie geht es Ihnen?«, fragt sie.
    »Gut.«
    »Gut. Ich war so besorgt, als ich hörte, was passiert ist. Und als Sie so lange nicht zu Hause waren, war ich auch besorgt, Charlie würde anfangen, sich im Unterricht aufzuführen, und noch weiter zurückfallen.«
    Ich nicke und warte darauf, dass sie genauer ausführt, inwiefern er sich aufführt und wie weit er zurückgefallen ist. Bob drückt meine Hand. Er wartet ebenfalls.
    »Aber er macht sich richtig gut. Ich würde sagen, vormittags läuft es besser als nachmittags, was daran liegen könnte, dass die Wirkung des Medikaments einsetzt, sobald er es morgens genommen hat, und im Laufe des Tages nachlässt, oder daran, dass er am Nachmittag erschöpfter ist. Aber im Großen und Ganzen kann ich eindeutig eine Verbesserung feststellen.«
    Wow. Ich hatte die ganze Zeit gehofft, eine solche Neuigkeit über Charlie zu hören, aber nicht gewagt, diese Hoffnung laut auszusprechen. Zu Hause läuft es in letzter Zeit so viel besser mit ihm – er ist mit seinen Hausaufgaben in weniger als einer Stunde fertig, und das ohne größere Diskussionen oder Dramen, er vergisst nicht, seine Schuhe anzuziehen, wenn ich ihn bitte, seine Schuhe anzuziehen, und er verliert nicht mehr als die Hälfte seiner Murmeln an einem Tag –, aber wir wussten nicht, ob sich irgendwelche dieser Verbesserungen in seinem Verhalten auch im Klassenzimmer zeigen. Bob drückt glücklich meine Hand, und wir warten darauf, dass Ms. Gavin genauer ausführt, in welcher Weise und wie weit sich Charlie verbessert hat.
    »Er kann Anweisungen jetzt besser befolgen, und meistens ist er imstande, die Arbeitsblätter zu bearbeiten, die ich der Klasse austeile.«
    Sie reicht Bob einen Stapel weißer Blätter. Bob hält noch immer meine linke Hand, während er mir ein Blatt nach dem anderen reicht. Auf jedem Blatt steht ganz oben Charlies Name; er ist mit Bleistift in seiner Handschrift geschrieben. Auf den meisten Blättern hat Charlie alle Fragen beantwortet, was allein schon eine bemerkenswerte Leistung ist, und bis jetzt sehe ich bei ungefähr zehn Fragen auf jeder Seite jeweils nur zwei oder drei falsche Antworten. Tolle Arbeit! Sehr schön! Gut gemacht! steht mit rotem Korrekturstift auf fast jedem Blatt – mit zusätzlichen Ausrufezeichen und Smileys auf vielen davon. Ich glaube nicht, dass ich je zuvor ein Lob auf Charlies Arbeiten gesehen habe.
    »Hier ist die letzte Seite«, sagt Bob.
    Es ist ein Blatt mit einfachen Rechenaufgaben. 100 %!!! steht eingekreist ganz oben. Eine perfekte Punktzahl für meinen wundervoll unperfekten Jungen.
    »Können wir die mit nach Hause nehmen?«, frage ich strahlend.
    »Natürlich.« Ms. Gavin strahlt zurück.
    Ich kann es kaum erwarten, dieses Blatt voller Additionen und Subtraktionen zusammen mit meiner Mutter zu bejubeln, die genauso begeistert sein wird, und es mit einem Magneten mitten auf dem Kühlschrank zu befestigen. Oder vielleicht sollten wir es einrahmen und an die Esszimmerwand hängen.
    »Das ist eine Riesenverbesserung, meinen Sie nicht auch?«, fragt Ms. Gavin.
    »Ein Unterschied wie Tag und Nacht«, sagt Bob.
    »Ich lasse ihn eine extragroße gelbe Karteikarte benutzen, mit der er die Fragen unter der, auf die er sich konzentriert, abdecken kann. Die Fragen in einzelne Streifen zu zerschneiden war zu zeitaufwändig. Außerdem haben sich die anderen Kinder für sein ›Bastel-Projekt‹ interessiert, und auf einmal wollten sie alle ihre Blätter zerschneiden. Das heißt, ich habe nichts dagegen, wenn Sie es zu Hause so machen, aber hier benutzen wir die gelbe Karteikarte, und das scheint gut zu klappen.«
    »Okay, das wäre für uns auch leichter. Sitzt oder steht er dabei?«, frage ich.
    »Ich habe ihm gesagt, er kann tun, was ihm lieber ist, und früher hat er meistens gestanden, aber inzwischen setzt er sich wieder hin. Ich glaube, das Stehen hilft ihm durchaus, still zu bleiben und sich auf das zu konzentrieren, was er tut, aber ein paar andere Kinder haben ihm deswegen das Leben schwer gemacht. Ein paar der Jungen haben ihn gehänselt.«
    Wer?

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