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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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denke, das sollten wir uns mal ansehen«, meint meine Mutter.
    »Ich will nicht.«
    »Aber du wolltest doch unbedingt Ski fahren.«
    »Das ist kein Skifahren, das ist Sitzen.«
    »Es ist eher Skifahren, als in dieser Hütte zu sitzen. Es ist im Freien. Es geht den Berg hinunter.«
    »Nein, danke.«
    »Warum versuchst du’s nicht wenigstens?«
    »Ich will nicht.«
    Ich wünschte, Bob wäre hier. Er hätte dieses Gespräch nach den ersten paar Sekunden abgewürgt. Der »Skifahrer« und der Hundeschlittenführer hinter ihm kommen vor unserem Fenster zum Stehen. Der Schlittenführer trägt dieselbe rot-schwarze Jacke wie die Frau, mit der wir eben gesprochen haben. Ein Lehrer. Die Beine des »Skifahrers« sind aneinander- und auf den Schlitten geschnallt. Der »Skifahrer« ist vermutlich von der Hüfte abwärts gelähmt. Ich bin nicht gelähmt. Oder vielleicht wurden dem »Skifahrer« die Beine amputiert und er hat an einem oder beiden eine Prothese. Ich habe noch beide Beine. Der »Skifahrer« und der Lehrer unterhalten sich einen Moment lang. Der »Skifahrer« strahlt übers ganze Gesicht. Dann lenkt der Lehrer den »Skifahrer« vor zum Anfang der Schlange, wo beide weitaus müheloser in den Sessellift steigen, als ich es erwartet habe.
    Ich sehe ihnen nach, während sie den Berg hochfahren, verfolge ihre Auffahrt, bis ihre Sitze zu klein werden, um sie noch zu erkennen. Die nächste halbe Stunde bis zum Mittagessen verbringe ich damit, den Ski- und Snowboardfahrern zuzusehen, die im Zickzackkurs den Fox Run und den Wild Goose Chase herunterbrettern. Aber ehrlich gesagt beobachte ich das Treiben an dem Hang nicht nur passiv. Ich halte nach dem sitzenden »Skifahrer« und seinem Schlittenführer Ausschau. Aber ich sehe sie nicht wieder.
    Während des gesamten Mittagessens werfe ich immer wieder einen verstohlenen Blick aus dem Fenster, aber ich kann sie nirgends mehr entdecken. Sie müssen zu einem anderen Pistengebiet gefahren sein. Als wir unsere Sachen zusammenpacken, um nach Hause zu fahren, sehe ich ein letztes Mal hinüber. Ich kann sie noch immer nicht entdecken.
    Aber wenn ich die Augen schließe, kann ich das lächelnde Gesicht des »Skifahrers« sehen.

ACHTUNDZWANZIGSTES KAPITEL
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    Es ist Ende Januar, und Bob und ich sind wieder im Klassenzimmer von Ms. Gavins erster Klasse, aber diesmal hat sie uns Erwachsenenstühle hingestellt, und meine Schuhe sind vermutlich genauso hässlich wie ihre. Das Schuljahr an der Grundschule von Welmont ist in drei Abschnitte unterteilt, und wir sind jetzt etwa bei der Hälfte des zweiten Drittels. Ms. Gavin hat uns um ein Gespräch gebeten, um über Charlies Fortschritte zu reden, bevor die nächsten Zeugnisse nach Hause geschickt werden.
    Wir setzen uns, und Bob streckt einen Arm aus und ergreift meine linke Hand. Ms. Gavin nimmt es kurz zur Kenntnis, bevor sie mit einem freundlichen Lächeln beginnt. Vermutlich fasst sie unser Händehalten so auf, dass wir nervös sind und uns auf entmutigende Neuigkeiten gefasst machen, ein rührendes Angebot emotionalen Beistands. Ich kann zwar durchaus ein Element besorgter Verbundenheit in Bobs Berührung erkennen, aber ich denke, der Hauptgrund, weshalb er meine Hand hält, ist, dass ich sie still halten soll.
    Die meiste Zeit baumelt mein linker Arm einfach von der Schulter herunter, nutzlos, aber auch ohne Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Doch seit Kurzem hat meine linke Hand begonnen, ein Interesse an Konversation zu zeigen und ohne mein Wissen zu gestikulieren.
    Meine ambulanten Therapeuten, meine Mutter, Bob – alle sind der Ansicht, dass das eine gute Entwicklung ist, ein Zeichen dafür, dass das Leben in meine linke Seite zurückkehrt. Ich stimme ihnen zu, aber für mich ist es auch ein etwas unheimliches neues Symptom, weil es sich so anfühlt, als ob jemand anders als ich der Puppenspieler wäre. Manchmal unterstreichen die kleinen Gesten treffend das, was ich in dem Augenblick sage, aber mitunter sind die Bewegungen auch völlig losgelöst von jedem erkennbaren Inhalt, und mein Arm scheint einfach ziellos, ja sogar spastisch, umherzustreifen. Gestern, während einer peinlich leidenschaftlichen Diskussion über Kate Plus 8 mit meiner Mutter, wanderte meine linke Hand auf einmal zu meiner linken Brust und blieb dort. Und das weiß ich auch nur, weil meine Mutter, nachdem sie und Bob auf meine Kosten eine ganze Weile Tränen gelacht hatten, mich in diesen Riesenwitz einweihte und meine Hand von der Brust nahm (aus

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