Mehr als nur ein halbes Leben
als ich die beiden endlich erreiche.
Charlie kickt mit seinen Stiefeln schmutzigen Schnee hoch und sagt nichts. Seine Nase läuft, und er atmet schwer durch den Mund. Sein Gesicht und seine Fingernägel sind schmutzig, aber ich sehe kein Blut.
»Na los, antworte deiner Mutter«, fordert Bob.
»Er hat etwas Gemeines gesagt«, sagt Charlie.
Ich sehe Bob an. Das muss einer der Jungen sein, die ihn gehänselt haben. Ich versuche auf der linken Seite zu sehen, welchen Jungen der Lehrer in Gewahrsam genommen hat, aber ich kann die beiden nicht finden.
»Hat dieser Junge dich beschimpft?«, frage ich.
Charlie hört auf zu kicken und sieht zu mir hoch.
»Nein«, antwortet er. »Er hat dich beschimpft. Er hat dich einen dummen Krüppel genannt.«
Ich stehe wie angewurzelt da, verblüfft und außerstande, den vorgefertigten Klischee-Vortrag über dumme Sprüche, auf die man nichts geben darf, zu halten, den jede Mutter in ihrer Schürzentasche aufbewahrt. Noch einmal versuche ich nach links zu sehen, während ich mich frage, ob der Junge vielleicht der Nasenbohrer oder der Stotterer ist, aber ich kann ihn noch immer nicht finden. Dann drehe ich mich wieder zu Charlie um.
»Danke, dass du für mich eingetreten bist«, sage ich liebevoll. »Aber du solltest dich nicht prügeln.«
»Aber …«, beginnt Charlie.
»Kein Aber. Kein Prügeln. Außerdem weiß dieser Junge doch gar nicht, wovon er redet«, sage ich. »Ich bin der schlaueste Krüppel, den er je gesehen hat.«
NEUNUNDZWANZIGSTES KAPITEL
----
Meine Mutter und ich haben die ganze letzte Stunde von unserer Nische in der Hütte der Talstation aus zugesehen, wie Bob und Lucy auf der Rabbit Lane zusammen Ski gefahren sind. Nach viel Quengeln, Winseln, Flehen und Verhandeln – und letztendlich, weil er die Grundlagen letzte Woche in den Februar-Schulferien wirklich gelernt hat – hat Charlie schließlich seinen Wunsch erfüllt bekommen, den Übungshügel zu verlassen. Immer wieder sehen wir ihn kurz, wie er den Fox Run hinunterrast. Sein Gesicht kann ich nie sehen, aber ich stelle mir vor, dass er bis über beide Ohren grinst.
»Ich denke, ich werde zurück zum Haus fahren«, sagt meine Mutter, die Augenbrauen zusammengezogen. Offenbar wird sie von irgendwelchen Schmerzen gequält.
»Was ist denn los?«, frage ich.
»Eigentlich nichts. Ich glaube, ich habe nur ein bisschen Kopfschmerzen von der Sonne. Und ich habe nicht gut geschlafen. Ich denke, ich werde mit Linus ein kleines Nickerchen machen. Willst du mitkommen?«
»Nein, ich bleibe noch.«
»Bist du sicher?«
»Ja. Bist du sicher, dass mit dir alles okay ist?«, frage ich.
»Ich muss mich nur ein bisschen hinlegen. Ruf mich an, wenn du mich brauchst.«
Sie sammelt die Behälter mit Knetmasse, die Pappbücher und die Lastwagen ein, mit denen Linus gespielt hat, und wirft alles in seine Windeltasche. Dann rutscht sie aus der Nische, schnallt Linus in seinen Buggy und geht.
Es ist früh am Morgen, und die Hütte ist still. Ich werfe einen Blick aus dem Fenster, aber ich sehe weder Bob noch Lucy oder Charlie. Meine Mutter hat mir einen Skizzenblock und Bleistifte, das Arbeitsheft mit den Wortsuchrätseln und das neueste People -Magazin dagelassen. Aber ich bin mit dieser People -Ausgabe schon fertig, und ich habe keine Lust zu zeichnen. Ich sollte ein Wortsuchrätsel lösen. Mein ambulanter Therapeut ist der Ansicht, dass Wortsuchrätsel mir helfen könnten, die Tasten schneller zu finden, die ganz links auf meiner Computertastatur sind, und ich muss schneller tippen können, wenn ich wieder arbeiten gehen will, und ich will auf jeden Fall wieder arbeiten gehen, daher sollte ich jedes Wortsuchrätsel in diesem Heft lösen. Aber ich habe keine Lust dazu.
Ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben, beschließe ich, ein bisschen spazieren zu gehen. Zu Fuß kann man hier eigentlich nicht sehr weit laufen – außer über den Parkplatz, und das ist vermutlich nicht der sicherste Ort zum Umherschweifen für jemanden, der Dinge, die von links kommen, nicht so leicht wahrnimmt und nicht sofort ausweichen kann. Aber ich bin es leid, in dieser Nische zu sitzen, und ich denke, dass die frische Luft mir guttun wird.
Mein Gehstock und ich treten ins Freie, und die kalte Luft und die warme Sonne beleben mich augenblicklich. Ohne es wirklich vorzuhaben, gehe ich, selbst nachdem ich begriffen habe, wohin mich meine Schritte führen, hinüber zu dem Gebäude nebenan. Ich halte nur kurz inne, um das Schild über
Weitere Kostenlose Bücher