Mehr als nur ein halbes Leben
vorbei, und dann scheint es mir nicht mehr erwähnenswert zu sein. Ich beschließe zu schweigen – über den Unfallort ebenso wie über den Fahrstil meiner Mutter. Wir werden es schon schaffen. Wir fahren schnell genug.
Wir parken im Prudential-Parkhaus und nehmen den Aufzug zur Ebene der Mall.
»Okay, Mom, ab hier schaffe ich es allein. Wo wollen wir uns danach treffen?«
»Ich soll nicht mitkommen?«
Ich versuche, mich als unabhängig, selbstsicher und einsatzbereit zu präsentieren. Nicht unbedingt die drei Worte, die einem einfallen, wenn ich an meinem ersten Tag mit meiner Mommy auf der Arbeit erscheine.
»Nein, du kannst ein bisschen shoppen gehen. Wir treffen uns im Food-Court, wenn ich fertig bin. Ich rufe dich an.«
»Aber ich wollte so gern sehen, wo du arbeitest.«
»Ein andermal. Bitte.«
Ich kann sehen, dass ich ihre Gefühle verletzt habe, aber es steht zu viel auf dem Spiel. Ich will nicht einmal, dass irgendjemand ahnt, dass meine Mutter mich zur Arbeit gefahren hat. Sie sollen ruhig glauben, dass ich selbst hergefahren bin.
»Bist du sicher?«, fragt meine Mutter.
»Ja. Ich bin ein großes Mädchen. Ich rufe dich an.«
»Okay. Ich werde bei Gap ein paar größere Strampelanzüge für Linus kaufen.«
»Wunderbar.«
»Viel Glück.« Sie umarmt mich, was mich verblüfft.
»Danke.«
Ich gehe an den Geschäften vorbei, folge dem Weg, den ich Tausende von Malen gegangen bin, zur Berkley-Lobby, die etwas abseits in einer Ecke der Mall liegt, die ein Gefühl von Exklusivität vermittelt. Im Empfangsbereich ist alles genauso wie immer: elegante, moderne beigefarbene Ledersessel und ein gläserner Couchtisch – die wie ein Miniatur-Wohnzimmer im Wartebereich aufgestellt sind –, die New York Times und das Wall Street Journal von heute auf dem Tisch, ein teures Arrangement frischer Blumen auf dem eindrucksvoll hohen Empfangstresen, der Schriftzug BERKLEY CONSULTING in Goldbuchstaben an der Wand dahinter. Heather, unsere Empfangsdame, sitzt auf einem Podest hinter dem Tresen, sodass sie hoch über dem Boden thront, nach unten sieht und so den Eindruck von Autorität verstärkt, den Berkley seinen Besuchern aufdrückt.
»Guten Morgen, Heather.«
»Sarah, willkommen zurück.«
»Danke. Es ist schön, zurück zu sein. Ich bin hier, um mit Richard zu sprechen.«
»Ja, Ihre Besprechung ist im Concord Room.«
»Wunderbar. Vielen Dank.«
Ich gehe an Heathers Tresen vorbei, wobei ich mein Bestes tue, um mir das offensichtliche Nachziehen meines linken Beins möglichst wenig anmerken zu lassen.
»Äh, Sarah? Zum Concord Room geht es hier entlang.« Sie zeigt in die entgegengesetzte Richtung, als würde sie mit einer entzückenden, aber sichtlich verwirrten älteren Frau sprechen. Dieser verdammte Gehstock.
»Ich weiß. Ich wollte nur erst noch jemandem Hallo sagen.«
»Oh, Entschuldigung.«
Ich gehe den langen Korridor hinunter – langsamer, als ich es je getan habe – und habe das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Die vorhersehbare Anordnung der Büros, während ich vorübergehe, die gerahmten Luftaufnahmen der wichtigsten Weltstädte an den Wänden, die Beleuchtung, der Teppichboden, alles erscheint einladend und angenehm vertraut. Ich dachte, ich würde dabei vielleicht Jessica über den Weg laufen, aber ich hatte nicht wirklich vor, auf diesem Abstecher irgendjemandem Hallo zu sagen. Vor meinem Büro bleibe ich stehen.
Ich öffne die Tür und schalte das Licht ein. Mein Computerbildschirm ist ausgeschaltet und mein Schreibtisch frei von Unterlagen. Die Fotos von Bob und den Kindern stehen in genau demselben Winkel da, in dem ich sie zurückgelassen habe. Selbst mein schwarzer Wollpullover hängt noch immer über meinem Schreibtischstuhl, bereit für Tage, an denen ich fröstele und eine zusätzliche Kleiderschicht brauche – im Allgemeinen in den Sommermonaten, wenn die Klimaanlage auf Hochtouren läuft.
Ich dachte, ich würde hineingehen wollen, mich auf meinen Sessel setzen, den Computer hochfahren und für ein paar Minuten durchs Fenster die Leute in der Boylston Street beobachten, aber ich setze mit meinen Ballerinas nicht einen Schritt hinein. Im Empfangsbereich und auf dem Korridor habe ich mich wie zu Hause gefühlt, aber mein Büro – in dem ich in den letzten acht Jahren vermutlich mehr Stunden verbracht habe als in meinem eigentlichen Zuhause – fühlt sich irgendwie zu seltsam an, als wäre es jetzt ein Tatort, der untersucht wird, und auch wenn es nicht mit
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