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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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Verstand, einen Hauch Mitgefühl und einen Herzschlag besitzt, ein solch abwegiges und verfrühtes Ende festlegen und vertreten konnte, ist mir schleierhaft.
    Nachdem ich gefühlte zehn Wochen in die Warteschleife gelegt wurde, bevor ich mit einem echten, lebendigen Menschen bei unserer Versicherung sprechen konnte, habe ich meine ungezügelte Wut an irgendeiner armen Kundenservice-Mitarbeiterin namens Betty ausgelassen, die gewiss keinen Anteil an der Einführung dieser Strategie hatte und mit Sicherheit keinen Einfluss hat, sie zu ändern. Aber es tat gut, Dampf abzulassen. Und damit ist die Sache erledigt. Wenn ich hundertprozentig gesund werden will, dann wird es ab jetzt hundertprozentig an mir liegen, dafür zu sorgen.
    Ich lese The Week zu Ende. Und jetzt? Ich wundere mich, dass meine Mutter und Linus noch nicht zurück sind. Linus ist jetzt ständig in Bewegung; er läuft, sobald er die Möglichkeit dazu hat, einfach weil er es kann. Er hasst es, still zu sitzen, und er ist außergewöhnlich zielstrebig, ein Charakterzug, von dem meine Mutter behauptet, dass er unmittelbar meiner DNA entspringt. »Vom Wind hat er es nicht«, sagt sie. Ich hoffe, er macht ihr das Leben nicht allzu schwer. Sie geht mit allen drei Kindern fantastisch um, hat ihre Termine im Griff, macht ihnen ihre Mahlzeiten, wäscht ihre ganze Wäsche, und sie genießt die Zeit, die sie mit ihnen verbringt. Aber an den meisten Tagen kann ich trotzdem um 16.00 Uhr sehen, dass sie ausgelaugt ist. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil sie so hart arbeitet, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie wir ohne sie zurechtkommen würden.
    Ich mache es mir in dem tiefen Sessel gemütlich, schließe die Augen und nehme die entspannende, treibhausartige Wärme des Wintergartens in mich auf. Aber ich bin nicht müde, und ich habe keine Lust auf ein Nickerchen. Ich wünschte, es wäre Samstag. Wenn es Samstag wäre, dann wären wir in Vermont, und ich könnte Snowboard fahren. Ich kann es kaum erwarten, wieder dorthin zu fahren.
    Das Telefon klingelt. Meine Mutter hat mir das Telefon gegeben, wie sie es immer tut, bevor sie mich allein zu Hause lässt, aber zwischen den Kissen neben mir, wo ich es normalerweise aufbewahre, ist es nicht. Es klingelt wieder. Ich folge dem Geräusch, bis ich das Telefon auf dem kleinen Beistelltisch mir gegenüber entdecke. Jetzt fällt mir ein, dass Linus damit gespielt hat. Er muss es dort liegen gelassen haben. Drei Schritte und meilenweit entfernt.
    Ich könnte aufstehen und mit meinem Gehstock zu dem Tisch hinüberschlurfen, wäre aber vermutlich nicht vor dem vierten Klingeln dort. Vielleicht sollte ich den Anrufbeantworter das Gespräch entgegennehmen lassen, aber habe ich mir nicht eben noch gewünscht, ich könnte irgendetwas tun? Ich werde versuchen, schneller als der Anrufbeantworter zu sein. Das Telefon klingelt wieder. Ich habe nur noch drei Mal.
    Ich schnappe mir den Gehstock am Schaft und gleite an ihm herunter, bis ich einen der Gummifüße in der Hand halte. Dann strecke ich den Arm aus und werfe das Ende mit dem Griff auf den Tisch. Ich hantiere mit dem Stock herum, bis das Telefon in dem U des Griffs liegt. Viertes Klingeln. Ich ziehe an dem Stock, und das Telefon fliegt vom Tisch und knallt mir genau gegen das Knie. Autsch. Das Telefon klingelt zu meinen Füßen. Ich strecke den Arm nach unten und hebe es auf, drücke auf die Sprechtaste und brülle fast: »Gewonnen!«, anstatt »Hallo?« zu sagen.
    »Hi, Sarah, hier spricht Richard Levine. Wie geht es Ihnen?«
    »Gut«, antworte ich, bemüht, nicht allzu atemlos oder gequält zu klingen.
    »Gut. Ich rufe an, um zu hören, wie es Ihnen geht, und zu fragen, ob Sie bereit wären, über die Möglichkeit zu sprechen, dass Sie wieder arbeiten kommen.«
    Wie geht es mir? Es ist fast Mittag, ich bin im Pyjama, und der stolzeste Augenblick meines Tages wird der sein, in dem ich das Telefon mit meinem Gehstock vor dem sechsten Klingeln abgenommen habe.
    »Es geht mir sehr gut, schon viel besser.«
    Bin ich bereit, darüber nachzudenken, wieder arbeiten zu gehen? Meine Mutter würde mich vermutlich darauf hinweisen, dass ich noch nicht einmal die erforderlichen Schritte koordinieren kann, um eine Windel zu wechseln. Wie in aller Welt sollte ich dann die Personalabteilung koordinieren können? Aber Bob würde sagen, dass ich bereit bin. Er würde mir sagen, dass ich zugreifen soll. Und auch die Kundenservice-Betty von unserer Krankenversicherung würde mir erklären,

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