Mehr als nur ein halbes Leben
dass ich bereit bin. Das Vor-dem-Unfall-Ich lässt die Champagnerkorken knallen, klopft mir auf den Rücken und schiebt mich praktisch zur Tür hinaus.
»Und ich würde sehr gern darüber reden, wieder zu arbeiten.«
»Sehr schön. Wann können Sie kommen?«
Augenblick. Ich hatte vor, heute Nachmittag eine Runde um den Block zu spazieren, bevor ich mein Nickerchen mache. Außerdem kommt meine Mutter vom Lebensmittelgeschäft nach Hause, was heißt, dass ich vermutlich ein neues Heft mit Wortsuchrätseln haben werde, und auf dem DVD-Rekorder wartet eine neue Ellen -Episode auf mich.
»Jederzeit.«
»Wie wär’s morgen um zehn Uhr?«
»Perfekt.«
»Wunderbar, also sehen wir uns dann.«
»Ja, bis morgen.«
Ich lege auf, stecke das Telefon hinter das Kissen und nehme die bevorstehenden Konsequenzen dieses unerwarteten Gesprächs zusammen mit der Wärme der Sonne in mich auf. Beide bringen mich ins Schwitzen. Ich bin bereit, darüber zu reden, wieder arbeiten zu gehen. Aber bin ich auch bereit, wieder arbeiten zu gehen? Ich habe die arme Kundenservice-Betty zur Schnecke gemacht und habe es eine kriminelle Machenschaft genannt, dass meine Therapie eingestellt wurde, bevor ich wieder hundertprozentig gesund bin. Bevor ich hundertprozentig bereit bin. Wie gesund und bereit bin ich also? Ich kann lesen und tippen, aber nur langsam, und laufen sogar noch langsamer. Ich mache mir Sorgen, dass ich zu spät zu Besprechungen und Terminen kommen oder irgendein entscheidendes Dokument nicht sehen werde, das mir auf die linke Seite des Schreibtischs gelegt wurde, dass ich vergessen werde, Dateien zu öffnen, die auf der linken Seite meines Computer-Desktops gespeichert sind. Ich denke an die 80/20-Regel. Bin ich überhaupt bei zwanzig Prozent?
Ich war immer stolz darauf, eine Perfektionistin zu sein, hundert Prozent meiner i-Punkte zu setzen, alles zu schaffen. Aber was, wenn weniger als hundert Prozent genug sind? Was, wenn ich zu zwanzig Prozent gesund bin und das ausreicht, um zu meinem Job zurückzukehren? Das könnte doch sein. Meine Arbeit liegt im Bereich Personalwesen, ein Schreibtischjob. Ich muss keine Operationen durchführen (wofür man zwei Hände braucht) oder Foxtrott tanzen (wofür man zwei Füße braucht). Ich kann zu weniger als hundert Prozent gesund sein und trotzdem eins a in meinem Job. Oder etwa nicht?
Ich sitze in meinem Lieblingssessel in meinem geheiligten Raum, mit hämmerndem Herzen, jeder Schlag gleichermaßen angetrieben von Aufregung und Angst. Ich frage mich, ob meine eben erklärte Bereitschaft vernünftiger Optimismus oder eine lächerliche Lüge ist. Durchs Fenster sehe ich in unseren Garten und seufze, außerstande, mich entweder für die eine oder für die andere Antwort zu entscheiden. Ich nehme an, wir werden morgen eine finden.
EINUNDDREISSIGSTES KAPITEL
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Ich werfe wieder einen Blick auf meinen Wecker. Es sind vier Minuten vergangen, seit ich das letzte Mal nachgesehen habe. Und wir sind noch immer mit meiner Hose zugange. Ich ziehe immer wieder den Bauch ein, und meine Mutter zerrt immer wieder an ihr, aber der Reißverschluss meiner schwarzen Wollhose lässt sich einfach nicht bis oben zuziehen.
»Ich denke, du solltest besser die hier anziehen«, sagt meine Mutter und hält eine meiner zahlreichen identischen schwarzen Synthetikhosen mit elastischem Bund hoch.
»Ich denke, du solltest es noch einmal versuchen«, entgegne ich.
»Höher wird es nicht gehen.«
»Na schön, dann muss das eben reichen. Wenn meine Jacke zugeknöpft ist, wird sie alles verdecken.«
Als Nächstes kommen wir zu meiner Bluse. In der Zeit, die ich früher benötigt habe, um mich ohne nennenswerte Mühe vollständig anzuziehen, schaffe ich es heute gerade mal, zwei meiner Blusenknöpfe allein zuzuknöpfen. Ich knöpfe noch einen dritten zu – ohne zu atmen und mit zusammengebissenen Zähnen –, bevor ich aufgebe und das ganze Projekt meiner Mutter überlasse. Dann werfe ich einen Blick auf den Wecker. Ich kann es mir nicht leisten, zu spät zu kommen.
Meine Mutter schließt die restlichen Knöpfe meiner Bluse und dann die Jacke. Sie legt mir meine türkisfarbene Perlenkette um den Hals und mein bimmelndes Glücksbringer-Armband ums Handgelenk. Ich wähle ein Paar Diamant-Ohrstecker aus. Sie steckt sie durch meine Ohrlöcher und befestigt die Verschlüsse. Anschließend reibt sie mein ganzes Gesicht mit Grundierungscreme ein und legt Bräunungspuder auf, verteilt einen hellrosa Lidschatten
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