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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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Ecke Fairfield und Boylston gegeben, die immer um Kleingeld bettelt.
    »Hast du den Verstand verloren?«
    »Nein«, entgegne ich gekränkt. Na ja, ich habe tatsächlich einen Teil meines rechten Verstandes verloren, aber jetzt ist vermutlich nicht der richtige Augenblick, um seine Worte auf die Goldwaage zu legen.
    »Warum in aller Welt tust du das denn?«
    »Ich bin noch nicht so weit.«
    Er fährt sich mit den Fingern immer wieder über Augenbrauen und Stirn, so wie er es tut, wenn die Kinder ihn fast in den Wahnsinn treiben und er versucht, eine ruhige Sekunde zu ergattern. Nur dass die Kinder gar nicht zu Hause sind. Wir sind allein im Haus, sitzen einander gegenüber am Küchentisch.
    »Sie denken, du bist es«, sagt er.
    »Sie wissen nicht, was wir wissen.«
    Sie wissen nicht, wie schwer es mir fällt, jedes Wort auf jeder Seite zu lesen, vor allem die Wörter am linken Rand der linken Seite. Sie wissen nicht, wie lange ich brauche, um die Buchstaben auf der linken Seite der Computertastatur zu finden. Sie wissen nicht, dass mein Büro mit orangefarbenem Klebeband und Schildern, auf denen SIEH NACH LINKS steht, versehen werden müsste. Sie wissen nicht, wie lange ich gebraucht habe, um von meinem Büro zum Concord Room zu kommen, und dass ich auf dem Weg dorthin mehrere Türrahmen und eine Topfpflanze gerammt habe, und sie wissen nicht, dass Jim mitten in der Besprechung verschwunden ist, weil er zu weit links von mir saß. Sie haben nicht gesehen, wie ich gestürzt bin, gesabbert habe oder versucht habe, meinen Mantel auszuziehen.
    »Ich denke wirklich, dass du so weit bist«, sagt Bob.
    »Das bin ich nicht.«
    Bobs Zuspruch seit dem Unfall ist unermüdlich, stets bewegt er sich zuversichtlich auf der feinen Linie zwischen Optimismus und Leugnen, Entschlossenheit und Verzweiflung. An manchen Tagen ist das genau der moralische Anschub, den ich brauche, um weiter durchzuhalten, aber an anderen – so wie heute – scheint das alles weiter von der Realität entfernt zu sein, als ich es von der linken Seite des Zimmers bin.
    Selbst ein Teilzeitjob bei Berkley würde zu viel Arbeit unter zu viel Zeitdruck bedeuten – ungefähr so, als müsste ich die ganze Sunday Times an einem Tag lesen. Ich kann mir die kostspieligen Fehler, die Auslassungen, die Peinlichkeiten und die Entschuldigungen nur zu gut vorstellen. Mein Ego und ich könnten das alles erleiden, aber infolge meines Leidens würden die Berater leiden, die Kunden würden leiden, und Berkley würde leiden. Niemand würde gewinnen.
    »Das ist doch genau das, was du übers Skifahren gesagt hast, und jetzt bist du jedes Wochenende auf der Piste«, insistiert Bob.
    »Aber ich fahre nicht Ski, ich fahre Snowboard.«
    »Der Punkt ist, du bist wieder dort draußen. Und das ist die beste Therapie für dich. Ich glaube, wieder zur Arbeit zu gehen wird dir sehr guttun. Was ist denn das Schlimmste, was passieren könnte?«
    »Ich würde kläglich scheitern.«
    »Das wirst du nicht. Du musst es wenigstens versuchen.«
    »Würdest du das denn tun?«
    »Auf jeden Fall.«
    »Nein, das würdest du nicht. Du würdest nicht wieder arbeiten gehen, wenn du nicht dein Bestes geben könntest.«
    »Doch, das würde ich. Und du wirst es schaffen. Aber du wirst es nicht wissen, wenn du es nicht versuchst.«
    »Ich weiß, dass ich nicht Ski fahren kann, auch ohne dass ich es versucht habe.«
    »Hier geht es nicht ums Skifahren.«
    »Ich weiß.«
    »Hier geht es um etwas wirklich Wichtiges.«
    »Ich weiß.«
    Er fängt wieder an, sich über Augenbrauen und Stirn zu fahren. Und jetzt hat er auch noch dieses pulsierende Zucken an den Schläfen, das er immer bekommt, wenn er versucht, Lucy durch gutes Zureden aus einem ihrer Wutanfälle herauszuholen – ein unmögliches, sinnloses Unterfangen, als würde man versuchen, einen Hurrikan zu überreden, seinen Verlauf zu ändern oder sich zu einem leichten Tropensturm abzuschwächen. Ich kann sie ignorieren, aber Bob kann nicht anders, als irgendetwas zu versuchen. Er redet und zuckt; sie heult und schlägt um sich. Manchmal lässt sie sich bei ihren Wutanfällen durch Ablenkungsmanöver austricksen, aber in den meisten Fällen müssen sie einfach ihren Lauf nehmen, bevor sie sich ausreichend beruhigt hat, um mit Worten erreichbar zu sein.
    »Ich flippe hier aus, Sarah. Ich schaffe das nicht allein. Wir können uns diesen Lebensstil ohne dich nicht leisten – den Privatunterricht für die Kinder, die Kindertagesstätte, unsere

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