Mehr als nur ein halbes Leben
einem polizeilichen Absperrband gesichert ist, sollte ich trotzdem besser nicht hineingehen und dort irgendetwas in Unordnung bringen. Ich schalte das Licht aus und schließe leise die Tür.
Als ich mich spontan entschieden habe, mein Büro aufzusuchen, habe ich gedacht, dass es nur ein kurzer Umweg sein würde. Ich hätte es besser wissen sollen. Berkleys Büro in Boston ist die Weltzentrale des Unternehmens, eine riesige, weitläufige Geschäftsfläche, und mein Büro liegt so weit vom Concord Room entfernt, wie es möglich ist. Ich bimmele mit meinem Armband und finde Heidis Armbanduhr an meinem linken Handgelenk. Scheiße.
Als ich mich an meinem Gehstock endlich keuchend zum Concord Room geschleppt habe, sitzen alle bereits da, trinken Kaffee, warten auf mich und beobachten jetzt meinen grandiosen Auftritt am Stock. Ich hätte überpünktlich hier sein sollen. Was habe ich mir bloß dabei gedacht?
»Sarah, treten Sie ein«, sagt Richard.
Richard und Carson sitzen ganz am rechten Ende des zehn Plätze langen Konferenztischs. Ich sehe nach links. Gerry und Paul, zwei der Geschäftsführer, sitzen Richard und Carson gegenüber, und Jim Whiting, einer der Partner, sitzt neben Paul. Aus dem Format dieser Truppe ziehe ich zwei schnelle Schlüsse. Erstens, diese Entscheidung hier ist von größter Wichtigkeit. Und zweitens, diese Entscheidung wird höchstens zehn Minuten dauern. Ich könnte hier fertig sein, bevor meine Mutter den Baby-Gap-Laden überhaupt gefunden hat.
An dem höflichen Schweigen und zögernden Lächeln kann ich außerdem ablesen, dass alle besorgt, wenn nicht sogar verwundert und beunruhigt über meinen Gang und meinen Gehstock sind. Ich hole einmal tief Luft, nehme den ganzen Mut zusammen, den ich aufbringen kann, und gebe allen die Hand, bevor ich mich ans Kopfende des Tischs setze. Ich habe einen kräftigen Händedruck – fest, ohne dass er zerquetscht, selbstbewusst und einnehmend –, und ich bete darum, dass er den Schaden ausbügelt, den ich mit diesem ersten Eindruck von mir eben angerichtet habe.
Als Richard mir Kaffee oder Wasser anbietet, lehne ich ab, weil ich nicht riskieren will, dass irgendetwas aus meinem linken Mundwinkel tropft, aber ich wünschte, ich könnte zu beidem Ja sagen. Ich bin fix und fertig, meine Kehle ist wie ausgedörrt von dem langen Fußmarsch durch Berkley, und ich könnte einen Schluck zu trinken gebrauchen. Außerdem fühle ich mich klebrig unter den Achseln und meinem BH, daher würde ich auch gern meine Wolljacke ausziehen, aber ich wage es nicht, diese Nummer in die Show mit aufzunehmen. Abgesehen davon verbirgt die Jacke den Reißverschluss meiner Hose, der sich nicht schließen lässt. Ich finde meine linke Hand mit der rechten und stecke sie zwischen meine Knie. Obwohl ich reichlich spät dran, verschwitzt und durstig bin und darum bete, dass meine linke Hand sich nicht losreißt und irgendetwas tut, was unpassend oder behindert aussieht, lächele ich Richard an, als wäre alles in bester Ordnung und ich bereit anzufangen.
»Nun, Sarah, im nächsten Quartal stehen bei uns eine ganze Reihe großer Projekte ins Haus, und wir hatten einen unerwartet hohen Umsatz. Carson, der in den letzten Monaten für Sie eingesprungen ist, hat ganze Arbeit geleistet, aber wir können es uns auf keinen Fall leisten, künftig auf einem Bein zu humpeln.«
Ich lächele geschmeichelt. Ich stelle mir vor, wie sich die Personalabteilung in den letzten vier Monaten an ihrem eigenen Gehstock vorwärtsgeschleppt hat, behindert und außerstande, ohne mich hundertprozentig zu funktionieren.
»Daher wollten wir bei Ihnen nachfragen, um zu sehen, ob Sie sich schon bereit fühlen, wieder einzusteigen.«
Ich will wieder loslegen. Das schnelle Tempo, die hohe Intensität, einen Beitrag zu etwas Wichtigem zu leisten, das Gefühl, stark und kultiviert zu sein, effektiv zu sein – all das vermisse ich. Ich sehe von einem zum anderen und versuche zu ergründen, wie sehr sie an meine Bereitschaft zur Rückkehr glauben, versuche zu sehen, ob die Miene oder Körpersprache von irgendjemandem die Begeisterung widerspiegelt, die ich überall in mir kribbeln spüre, aber ich bekomme nicht die positive Bestätigung, die ich will. Gerry und Paul haben die Arme verschränkt, und alle haben ein Pokerface aufgesetzt. Alle bis auf Jim. Jim habe ich eben erst die Hand gegeben, aber jetzt kann ich ihn nirgendwo mehr entdecken. Es kann sein, dass er kurz hinausgegangen ist, dass er angepiept wurde
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