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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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auf meinen Augenlidern, zupft mir ein paar Härchen zwischen den Augenbrauen und am Kinn aus und tönt meine Lippen mit einem dezenten Gloss. Ich werfe einen Blick in den Spiegel und bin zufrieden mit ihrer Arbeit.
    Aber dann, als es um meine Schuhe geht, geraten wir in eine Sackgasse. Ich weigere mich, meine Merrell-Slipper anzuziehen (oder ihren anderen Vorschlag – weiße Turnschuhe!), und meine Mutter weigert sich, mich zur Arbeit zu fahren, wenn ich mich entscheiden sollte, hohe Absätze zu tragen.
    »Ich muss von Kopf bis Fuß tipptopp aussehen. Ich muss Stärke und Kultiviertheit ausstrahlen.«
    »Und wie stark und kultiviert wirst du aussehen, wenn du stolperst und auf die Nase fällst?«
    Bedauerlicherweise ist das keine unwahrscheinliche Prophezeiung. Ich beschließe, das Risiko dieser besonderen Demütigung nicht einzugehen, indem ich mich für einen Kompromiss entscheide. Bruno-Magli-Ballerinas. Meiner Mutter sind die klebrigen Gummisohlen der Merrells lieber als die »rutschigen« Unterseiten der Ballerinas, aber sie lenkt ein und holt sie mir. Na bitte. Abgesehen von meiner Annie-Lennox-Frisur, die mir inzwischen sogar richtig gut gefällt, sehe ich fast so aus wie vor vier Monaten. Dem Anlass entsprechend geschäftsmäßig, kultiviert, stark und – was am wichtigsten ist – nicht behindert. Bis ich nach meinem Gehstock greife. An diesem Accessoire ist nichts Starkes oder Kultiviertes, aber leider bin ich darauf angewiesen. Ich wünschte, ich könnte inzwischen mit einem normalen Stock laufen. Ein edler hölzerner Schaft mit einem eleganten Messinggriff weckt doch gleich viel positivere Assoziationen als harter rostfreier Stahl und grauer Gummi – ein distinguierter Herr mit einem leichten, kaum merklichen Hinken, keine gebrechliche Großmutter, die sich von einer gerade überstandenen Hüft-OP erholt. Meine Mutter bietet mir an, den Gehstock für den Anlass herauszuputzen, indem sie ein hübsches Seidentuch um den Griff wickelt, aber ich will nicht unnötig Aufmerksamkeit darauf lenken. Besser ist es, ihn einfach zu ignorieren und zu hoffen, dass alle anderen meinem Beispiel folgen können.
    Die Küche ist seltsam still ohne die Kinder, die schon fort sind. Bob hat sie heute früher als sonst zur Schule und zur Kindertagesstätte gebracht, damit meine Mutter und ich Platz und Zeit haben, um uns in aller Ruhe fertig zu machen. Schnell kippe ich eine Tasse Kaffee hinunter. Ich bin zu aufgeregt, um jetzt etwas zu essen. Ich sehe noch einmal auf die Uhr.
    »Fahren wir.«
    Seit ich aufgewacht bin, bin ich angespannt, und ich glaube, meine Mutter kann es spüren. Aber das Anziehen – auch wenn ich dabei nur Anweisungen gegeben habe – hat uns beiden eine Beschäftigung geboten, in die wir unsere ganze nervöse Energie stecken konnten. Jetzt sind wir auf dem Weg nach Boston, und ich sitze angeschnallt auf dem Beifahrersitz. Meine Angst ist in diesem Wagen gefangen, hat nichts zu tun und kann nirgendwohin, ist klaustrophobisch und steigt mit jeder Sekunde exponentiell an.
    Meine Schultern sind bis zu den Ohren hochgezogen, mein rechter Fuß drückt auf das imaginäre Gaspedal auf dem Boden, und meine Nerven schreien: Schneller, fahr schon, beeil dich doch, damit ich nicht zu spät komme! Währenddessen hat meine Mutter genau die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen und wird immer ruhiger: Sie fährt langsamer als sonst und ist besonders vorsichtig an diesem alles entscheidenden Tag, kriecht sicher auf der rechten Spur des Highways, während alle anderen in Massachusetts offenbar an uns vorbeischießen. Sie ist die Schildkröte, und ich bin der Hase. Selbst unter optimalen Bedingungen waren wir nie dafür bestimmt, im morgendlichen Berufsverkehr gemeinsam in die Stadt zu fahren.
    Ich flippe fast aus, als ich auf einmal sehe, wo wir sind, und jeder panische, anderweitig beschäftigte Gedanke in mir verfällt in ein unheimliches Schweigen. Eine Gänsehaut läuft mir über den Rücken und dann den Arm hinunter. An diesem Abschnitt des Mass Pike ist nichts Bemerkenswertes, es gibt keinen bedeutenden Orientierungspunkt, keine Ausfahrt und kein Schild in östlicher oder westlicher Richtung, nichts, was irgendjemandem auffallen würde. Doch hier ist es passiert. Hier habe ich die Kontrolle über den Wagen verloren. Hier hat sich mein ganzes Leben verändert.
    Ich will meine Mutter auf die Stelle aufmerksam machen, aber bevor ich meine Gedanken und meine Stimme zusammenbringen kann, sind wir schon

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