Mehr als nur ein halbes Leben
nicht einen Wohlfühl-Moment zu meiner »Schnapsidee«, hier zu leben, beitragen will. Ich atme den Duft meines Latte ein, bevor ich noch einen heißen Schluck nehme. Mmm. Ich würde sagen, genau so einen verpasst er jetzt.
Ich gebe vor, ein Wortsuchrätsel zu lösen, aber tatsächlich genieße ich hauptsächlich meinen Kaffee, entspanne mich vor dem Feuer und beobachte meine Mutter. Sie strickt an einem leuchtend roten Schal und ist völlig auf ihre Nadeln konzentriert, spricht immer wieder leise die Reihenfolge ihrer Maschen mit. Sie hält inne, um sich die Schulter zu massieren.
»Alles okay mit dir?«, frage ich.
»Ich glaube, mir tut der Arm weh, weil ich Linus so viel gehalten habe.«
Sie drückt sich den linken Oberarm. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie Linus normalerweise mit dem rechten hält.
»Vielleicht verkrampfst du die Schultern beim Stricken zu sehr«, überlege ich, obwohl ihre Haltung nicht verkrampft aussieht.
»Ich glaube, es ist wegen Linus.«
Sie reibt sich noch ein paarmal den Arm von der Schulter bis zum Ellenbogen und strickt dann wieder weiter. Der Schal ergießt sich von ihren Stricknadeln in ihren Schoß und aufs Sofa wie eine Wolldecke. Er sieht fast fertig aus, und ich stelle mir vor, wie gut er ihr stehen wird, passend zu ihrem silbergrauen Haar, ihrer schwarz umrandeten Brille und dem roten Lippenstift, den sie so gern trägt.
»Du musst deine Red-Hat-Freundinnen vermissen«, sage ich.
»Schon«, antwortet sie, ohne aufzusehen oder das Klappern ihrer Nadeln zu unterbrechen, »aber ich rede ja ständig mit ihnen.«
»Ach ja?«
Ich sehe sie nie telefonieren.
»Wir skypen.«
»Du skypst? «
»Aber ja.«
Das ist die Frau, die den Aufbruch ins Zeitalter der Mikrowelle, des Videorekorders und der TV-Fernbedienung verpasst hat – alles Geräte, die sie noch immer verwirren. Sie besitzt kein eigenes Handy und keinen Laptop, und sie hat kein GPS-Navigationssystem für ihren Wagen. Aber sie skypt?
»Woher weißt du denn, was Skypen ist?«, frage ich.
»Ich hab’s bei Oprah gesehen.«
Ich hätte es wissen müssen. Die drei Informationsquellen meiner Mutter sind Oprah , Ellen und das People -Magazin. Der akademische Snob in mir will sie von oben herab behandeln, aber ich muss ihr Anerkennung zollen. Sie hat es weit gebracht in den vier Monaten. Sie benutzt Bobs Navi wie ein Profi, und sie ist jeden Tag zur Rushhour nach Boston gefahren, als ich in Baldwin war. Sie schafft es inzwischen, die richtige Fernbedienung (wir haben fünf) zu finden und die richtige Tastenkombination zu drücken, um von Kabel auf Videorekorder auf Wii umzustellen (sogar Abby fand das anfangs etwas verwirrend). Sie geht jedes Mal, wenn wir sie anrufen, an das Handy, das Bob ihr überlassen hat, solange sie bei uns ist. Und offenbar skypt sie auf unserem PC.
»Was ist mit deinem Zuhause? Du musst es vermissen, in deinem eigenen Haus zu sein«, sage ich.
»Manches davon vermisse ich. Manchmal vermisse ich die Stille und meine Privatsphäre. Aber wenn ich dort wäre, dann würde ich die Stimmen der Kinder, ihr Gelächter und den ganzen Trubel hier vermissen.«
»Aber was ist mit deinen Sachen? Und deiner Routine?«
»Ich habe hier eine Routine und jede Menge Sachen. Zu Hause ist man, wo man lebt. Und im Augenblick lebe ich bei dir, daher ist das jetzt mein Zuhause.«
Zu Hause ist man, wo man lebt. Ich muss an dieses Schild am Ende des Storrow Drive in Boston denken: WENN SIE HIER LEBEN WÜRDEN, DANN WÄREN SIE JETZT ZU HAUSE . Ich sehe aus dem Fenster, sehe die natürliche Schönheit unseres offenen Grundstücks, den grauen Morgen, der sich allmählich mit Farbe füllt, während die Sonne über den Hügeln aufgeht. Ich würde so gern hier leben. Und ich denke, die Kinder wären begeistert davon. Aber Bob hat recht. Wir können nicht einfach hierherziehen und ohne einen konkreten Plan, wie wir unseren Lebensunterhalt verdienen sollen, alle aus ihrer gewohnten Umgebung reißen. Ich stelle mir ein Schild an der Grenze zu Vermont vor: WENN SIE HIER LEBEN WOLLEN, WERDEN SIE SICH JOBS SUCHEN MÜSSEN . Richtige Jobs, ergänzt Bobs Stimme in meinem Kopf.
»Aber im Sommer würde ich gern wieder zu Hause sein. Ich werde meinen Garten und die Strände vermissen. Ich liebe den Sommer am Cape«, sagt meine Mutter.
»Glaubst du, bis zum Sommer wird es mir besser gehen?«
»Oh, viel besser, denke ich.«
»Nein, ich meine, glaubst du, ich werde wieder so sein, wie ich vor dem Unfall war?«
»Ich weiß es
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