Mehr als nur ein halbes Leben
Charlie offen. Immer wieder sehe ich ihn auf seinem Brett. Er ist entzückt, mich zu sehen, und dann noch entzückter, an mir vorbeizurasen. Bei ihm sieht das Snowboardfahren so leicht aus. Ich weiß nicht, wie ich dabei aussehe, aber ich nehme an, die übergroße Anstrengung und Konzentration, die ich dafür aufbringen muss, sieht man mir an. Aber wie gesagt ist es mir egal, wie ich aussehe. Vielleicht sehe ich nicht aus wie eine coole Snowboarderin, aber ich fühle mich wie eine.
Doch obwohl die Bedingungen hervorragend sind, ich Spaß an Charlies Überholmanövern und völliges Vertrauen darein habe, dass Mike auf mich aufpasst, und ich mich wie Shaun White fühle, empfinde ich dennoch nicht dieses pure, unbändige Vergnügen und die tiefe Stille, die ich normalerweise empfinde, wenn ich auf dem Berg bin. Ich achte äußerst konzentriert auf meine Technik und darauf, wie sich das Snowboard auf dem Berg anfühlt, aber ein kleiner Teil dieser Konzentration lauscht dabei auch einem dramatischen Monolog, der in meinem Kopf abläuft, völlig gebannt von der Vorstellung.
Was, wenn Bob recht hat? Was, wenn Berkley der einzige Weg zurück ist? Was, wenn ich meine einzige Chance sausen lasse, zu einem echten Leben zurückzukehren? Vielleicht ist es wirklich eine verrückte Idee, in Vermont zu leben.
Ich hocke mich wieder auf die Fersen und fahre nach rechts. Aber ich habe mich ein bisschen zu weit zurückgelehnt, sodass ich jetzt mit der Kante hängen bleibe, stürze und hart aufs Gesäß knalle. Mike bleibt neben mir stehen und hilft mir hoch.
»Alles okay mit Ihnen?«, fragt er.
»Ja«, antworte ich, obwohl ich weiß, dass sowohl mein Steißbein als auch mein Ego einen Kratzer abbekommen haben.
Ich richte die Spitze meines Bretts talwärts, und wir gleiten weiter.
Was würden Bob und ich hier oben machen? Ich will kein Café eröffnen, Tickets für den Lift verkaufen oder eine Kunstgalerie eröffnen (die Idee meiner Mutter). Vielleicht gibt es hier oben wirklich nichts für uns. Würde ein Leben hier bedeuten, dass wir unsere teure und hart erarbeitete Ausbildung zurücklassen, alles, was wir in der Welt leisten, wozu wir unseren Beitrag leisten wollten, alles, wovon wir geträumt haben?
»Hey, Goofy!«
Es ist Charlie. Er nennt mich Goofy, weil ich mit dem rechten Fuß voran auf dem Brett fahre, was goofyfüßig heißt. Er findet das zum Schreien. Ich finde, der Spitzname passt perfekt zu mir. Diesmal bremst er nicht ab, und ich sehe nur die Rückseite seiner orangefarbenen Jacke, als er an uns vorbeischießt. Ich lächle.
»Angeber!«
Vielleicht bin ich nur behindert und verängstigt und versuche, Bob mit mir herunterzuziehen. Vielleicht versuche ich, davonzulaufen und mich zu verstecken. Vielleicht bin ich verrückt.
Bin ich verrückt?
Mein Brett zeigt genau talwärts, und ich fahre schon jetzt so schnell, wie ich es mir gerade noch zutraue, als der Hang auf einmal steil abfällt und ich noch schneller werde. Mein Herz rast, und jeder Muskel meines Körpers spannt sich an. Mike spürt meine Panik und zieht fest an dem Strick, sodass ich – statt wieder einen schmerzhaften Sturz zu erleiden – sanft zum Stehen komme.
»Alles okay?«, ruft Mike hinter mir.
»Ja. Danke.«
Ich wünschte, er könnte die Zügel bei meinen außer Kontrolle geratenen Gedanken ähnlich fest anziehen. Wir fahren weiter den Berg hinunter.
Ich will nicht zurück zu Berkley. Es muss noch eine andere Möglichkeit geben. Einen anderen Traum für mein Leben. Das weiß ich so sicher, wie ich weiß, dass Schnee weiß ist. Aber was? Und wo? Können wir hier oben ein erfülltes und erfolgreiches Leben führen? Es scheint unmöglich zu sein.
Ich verlagere mein Gewicht auf die Zehen. Zu meinem eigenen Erstaunen verkrampfe ich mich nicht, und ich stürze nicht. Dann finde ich aus der Hüfte heraus wieder ins Gleichgewicht und fahre weiter bergab. Ich bin soeben sauber nach links gefahren.
Nichts ist unmöglich.
Vielleicht, aber vertraue ich meiner Intuition oder Bob? Will ich zu meinem alten Leben zurückkehren oder ein neues anfangen? Ist es verrückt von mir zu glauben, dass ich überhaupt zu meinem alten Leben zurückkehren könnte? Ist es verrückt von mir, etwas anderes zu wollen? Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich brauche irgendein Zeichen.
Gott, bitte gib mir ein Zeichen.
Wir beenden unsere letzte Abfahrt für diesen Nachmittag, während mein Verstand noch immer Zweifel und Sorgen abspult, ohne mir irgendwelche Antworten
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