Mehr als nur ein halbes Leben
gar nicht richtig beantworten«, erwidert er.
»Dann werde ich sie für dich beantworten. Nein. Nein, du willst nicht so enden wie ich. Und du willst auch niemanden umbringen, oder?«
»Hör auf, du machst den Kindern noch Angst.«
»Leg das Handy weg. Keine Handys mehr im Auto, Bob. Ich meine es ernst. Keine Handys.«
»Es ist nur ein kurzer Anruf, und ich muss Steve vor morgen früh erreichen.«
»Keine Handys! Keine Handys!«, rufen Charlie und Lucy im Chor von der Rückbank, begeistert davon, ihrem Vater sagen zu können, was er tun soll.
»Nur zwei Sekunden. Ich hätte es längst erledigen können.«
»Wir sind in zehn Minuten im Mangia. Kann dein Anruf nicht noch zehn Minuten warten? Können Steve und die große wichtige Welt nicht noch zehn Minuten warten, von dir zu hören?«
»Okay.« Er dehnt das Wort mit übertriebener Gelassenheit, ein Versuch, den Ärger zu verschleiern, der sich dahinter aufbaut. »Aber dann werden wir im Restaurant sein, und jetzt tue ich nichts.«
»Du fährst! «
Früher habe ich meine Fahrten zur Arbeit und nach Hause ständig mit Telefonaten (und im Stop-and-go-Verkehr sogar mit SMS-Nachrichten und E-Mails) ausgefüllt. Doch jetzt werde ich mein Handy nie mehr im Wagen benutzen (vorausgesetzt, ich werde eines Tages überhaupt wieder Auto fahren können). Von allen Lektionen, die ich gelernt habe, und allen Anpassungen, die ich nach dieser Erfahrung bislang vorgenommen habe, ist die »Kein Handy im Auto«-Regel vermutlich die elementarste.
»Wie wär’s damit?«, frage ich. »Du könntest jetzt mit mir reden. Lass uns ein nettes zehnminütiges Gespräch führen, und dann, wenn wir am Restaurant sind und du den Wagen einparkst, kannst du deinen Anruf erledigen, und wir werden alle auf dich warten.«
»Na schön.«
»Danke.«
Bob fährt und sagt nichts. Die Rufe der Kinder sind verstummt. Wir sechs sitzen im Wagen vor einer roten Ampel. Das Radio und der DVD-Player sind ausgeschaltet, und die Stille ist bedrückend. Er kapiert es nicht, und das macht mir anfangs Sorgen, aber dann, durch den Katalysator seines Schweigens, verwandelt sich meine Sorge rasch in Wut. Als wir vor der nächsten roten Ampel warten, sagt er noch immer nichts. Eben war ich noch sauer, weil er nicht kapiert, warum ich nicht will, dass er im Auto telefoniert, aber jetzt bin ich sauer, weil er nicht kapiert, warum ich nicht zurück zu Berkley will oder warum ich in Vermont leben will. Wir bremsen hinter dem Wagen vor uns ab, der nach rechts abbiegt, und ich kann nicht glauben, dass er mich nicht versteht.
»Worüber willst du denn reden?«, fragt Bob schließlich. Das Mangia ist jetzt nur noch ein paar Blocks entfernt.
»Gar nichts.«
SECHSUNDDREISSIGSTES KAPITEL
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Meine Mutter und ich schlagen mit Linus im Spielzeuggeschäft von Welmont die Zeit tot, während Lucy bei ihrem Tanzunterricht in derselben Straße und Charlie bei seinem Basketballtraining im Gemeindezentrum auf der anderen Seite der Stadt ist. Aus seinem Buggy befreit, ist Linus im siebten Himmel, während er an dem Thomas-die-Lokomotive-Tisch spielt, Züge aneinanderkoppelt und dann wieder trennt, sie über die Gleise, durch Tunnel und über Brücken schiebt. Das könnte er den ganzen Tag tun, aber wir haben nur noch ungefähr zwanzig Minuten, bis Lucys Unterricht zu Ende ist, und meine Mutter und ich haben uns bereits damit abgefunden, wie unser Aufbruch aus dem Spielzeuggeschäft ablaufen wird.
Ich werde ihm mit einer fröhlichen Komm-das-wird-ein-Riesenspaß-Stimme sagen, dass es Zeit zum Gehen ist. Er wird gar nicht erst darauf hereinfallen, sondern auf der Stelle ausrasten und versuchen, so viele Züge mitgehen zu lassen, wie er mit seinen pummeligen kleinen Händen umklammern kann. Dann werden meine Mutter und ich einem völlig verzweifelten Einjährigen, der noch nicht zu rationalem Denken fähig ist, hilflos erklären, dass die Züge dem Geschäft gehören und hier bleiben müssen. Daraufhin wird er sich auf den Boden werfen und probieren, sich unserem Aufbruch durch zivilen Ungehorsam zu widersetzen, und wir werden ihm die Züge aus den Händen winden und einen absolut widerspenstigen Linus zur Tür hinaustragen müssen – steif wie ein Brett und schreiend. Es wird fürchterlich sein. Aber im Augenblick ist er noch ein entzückendes Kleinkind in einem Zustand purer Glückseligkeit.
»Sieh dir das an.« Meine Mutter hält ein kunstvoll mit Perlen und Rüschen verziertes Prinzessinnenkleid hoch.
»Sie würde es
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