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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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ist einfach leichter, wenn ich bleibe, bis sie tief und fest schlummert.
    Ich halte ihren kleinen Körper an meinen gedrückt, meine Nase auf ihrem Kopf. Sie riecht himmlisch – eine Mischung aus Johnson’s-Babyshampoo, Tom’s-of-Maine-Erdbeerzahnpasta und Nilla-Waffeln. Ich glaube, an dem Tag, an dem all meine Kinder aufhören, Johnson’s-Babyshampoo zu benutzen, werde ich weinen. Wer wird dann so riechen wie sie?
    Sie ist so warm, und ihr tiefer Atem ist hypnotisierend. Ich wünschte, ich könnte mich mit ihr zusammen in den Schlaf sinken lassen, aber ich habe noch jede Menge zu erledigen, bevor ich ins Bett gehen kann. Jeden Abend besteht der Trick darin, zu gehen, nachdem sie den Kampf gegen den Schlaf aufgegeben hat, aber bevor ich dem Bedürfnis nachgebe, selbst die Augen zu schließen. Als ich sicher bin, dass sie tief und fest schläft, schlüpfe ich unter der Decke hervor, schleiche auf Zehenspitzen um all die Spiel- und Bastelsachen (Landminen), die auf dem Boden verstreut liegen, und stehle mich aus ihrem dunklen Zimmer, als wäre ich James Bond.
    Bob isst auf dem Sofa eine Schale Müsli.
    »Entschuldige, Schatz, ich konnte nicht mehr warten.«
    Kein Grund, sich zu entschuldigen. Ich bin erleichtert. Ehrlich gesagt bin ich froh, wenn ich nicht darüber nachdenken muss, was wir zu Abend essen werden, und erst recht, wenn ich nichts kochen muss. Na ja, ich sollte es zugeben, ich koche nicht wirklich: Ich stelle etwas in die Mikrowelle, ich wärme vorgekochtes Essen auf, und die Telefonnummer des Lieferservice ist in unserem Telefon als Kurzwahl gespeichert. Aber Müsli könnte zu Hause glatt mein Lieblingsessen sein. Es ist nicht so, dass ich ein reichhaltiges und erlesenes Dinner bei Pisces oder Mistral nicht zu schätzen wüsste, aber bei einem Abendessen zu Hause mit Bob auf den Sofas geht es nicht um ein stilvolles Ambiente und eine raffinierte Küche. Es geht darum, die Hungerattacken so schnell wie möglich loszuwerden und dann zum nächsten Punkt überzugehen.
    Die nächsten drei Stunden verbringen wir im Wohnzimmer – auf getrennten Sofas, mit unseren Laptops auf dem Schoß. Als Hintergrundgeräusch läuft CNN im Fernsehen, und hin und wieder kommt ein interessanter kurzer Bericht. Hauptsächlich schicke ich E-Mails an unsere Büros in China und Indien. In Boston ist es zwölf Stunden früher als in China und zehneinhalb früher als in Indien, das heißt, dort ist es bereits morgen früh. Das verblüfft mich noch immer. Ich bin eine Zeitreisende, schließe in der realen Zeit am Donnerstag Geschäfte ab, während es noch immer Mittwoch ist und ich auf meinem Sofa sitze. Nicht zu glauben.
    Bob klickt sich durchs Internet und knüpft berufliche Kontakte. Er arbeitet bei einem vielversprechenden IT-Startup-Unternehmen, das ein riesiges Gewinnpotenzial hat, sollten sie übernommen werden oder an die Börse gehen, aber wie bei den meisten neu gegründeten Unternehmen sind die Aussichten bei der derzeitigen Wirtschaftslage nicht allzu rosig. Die Rezession hat sie schwer getroffen, und die steilen Wachstumskurven, mit denen Bob gerechnet hatte, als er vor drei Jahren dort anfing, wirken jetzt wie eine ferne, lächerliche Fantasie. Im Augenblick versuchen sie einfach, sich über Wasser zu halten. Er hat eben eine zweite Entlassungsrunde überstanden, aber er hat nicht vor, mit angehaltenem Atem zu warten, bis die dritte vor der Tür steht. Das Problem ist, dass Bob wählerisch ist, und derzeit stellen nicht viele Unternehmen ein. Ich kann an seinem zusammengekniffenen Mund und der senkrechten Falte zwischen seinen gefurchten Augenbrauen ablesen, dass er nichts findet.
    Seine berufliche Unsicherheit, in Gegenwart und Zukunft, macht ihm schwer zu schaffen. Wenn er anfängt, in dieses schwarze Loch zu fallen – Was, wenn ich morgen meinen Job verliere? Was, wenn ich keinen anderen finde? Was, wenn wir die Hypothekenraten nicht mehr bezahlen können? –, versuche ich diese ganzen Fragen abzutun, um ihm die Last von den Schultern zu nehmen. Keine Sorge, Schatz, du schaffst das schon. Die Kinder schaffen das schon. Wir alle schaffen das schon.
    Aber diese ganzen Fragen nehmen auch in meinem Kopf immer mehr Platz ein, und in meinem Kopf bin ich der Kapitän der Champion-Schlittenmannschaft, die mit Rekordgeschwindigkeit auf dieses schwarze Loch zuschießt. Was, wenn er wirklich entlassen wird und keinen neuen Job finden kann? Was, wenn wir das Haus in Vermont verkaufen müssen? Aber dann auch: Was, wenn

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