Mehr als nur ein halbes Leben
abzuarbeiten. Und doch ziehe ich die Grenze jeden Abend beim Sex. Genau wie Bob.
Ich kann mich erinnern, wie wir oft am frühen Abend Sex hatten, bevor wir zu müde dafür wurden, manchmal sogar, bevor wir ausgingen (damals, als wir noch ausgingen). Heute tun wir es, falls wir es überhaupt noch unterbringen können, immer zur Schlafenszeit, immer im Bett. Es ist eine Tätigkeit vor dem Schlafengehen wie die Zähne zu putzen oder mit Zahnseide zu reinigen – wenn sie auch nicht mit derselben Regelmäßigkeit stattfindet.
Ich weiß noch, wie ich, als ich noch Single war, in der Vogue oder der Cosmopolitan oder einer dieser Zeitschriften, in die ich nur beim Friseur reinschaue, einmal las, verheiratete Paare mit Hochschulabschluss hätten nach eigenen Angaben von allen verheirateten Paaren am wenigsten Sex. Nur zehn- bis zwölfmal im Jahr. Das heißt einmal im Monat. So werde ich NIEMALS sein, dachte ich damals. Natürlich, ich war in den Zwanzigern, Single, kinderlos, längst nicht so gebildet, wie ich es heute bin, und wurde mindestens zwei- bis dreimal die Woche flachgelegt. Früher habe ich die Umfragen in diesen Zeitschriften gelesen und gedacht, sie seien unterhaltsam, aber reine Fiktion. Jetzt hänge ich an jedem der brillanten Worte.
Ich hoffe, Bob bezweifelt nicht, dass ich ihn noch immer attraktiv finde. Ironischerweise finde ich ihn jetzt sogar noch attraktiver als damals, als wir zusammen gingen und ständig Sex hatten. Wenn ich zusehe, wie er Linus ein Fläschchen gibt, Lucys Wehwehchen küsst, Charlie immer wieder zeigt, wie er sich die Schuhe zubinden soll … In den Augenblicken, in denen ich ihn völlig unbefangen und vertieft in seine Liebe zu ihnen sehe, könnte ich vor Zuneigung zu ihm fast platzen.
Ich bedauere die Abende, an denen ich so müde bin, dass ich einschlafe, bevor ich ihm sagen kann, dass ich ihn liebe. Und irrationalerweise bin ich an den Abenden, an denen er einschläft, bevor er es mir sagen kann, wütend auf ihn. Wenn wir schon zu unmotiviert sind, um ein anständiges Abendessen für Erwachsene zu essen, zu beschäftigt mit E-Mails und Arbeitssuche, um uns auf dem Sofa aneinanderzukuscheln und einen Film anzusehen, und zu geschlaucht, um drei Minuten Sex in Erwägung zu ziehen, dann können wir uns doch wenigstens sagen, dass wir uns lieben, bevor wir einschlafen.
Ich liege allein im Bett und warte auf Bob. Ich will ihm sagen, dass ich ihn liebe, dass ich ihn, selbst wenn er morgen seinen Job verlieren sollte, immer noch lieben werde. Dass wir es – egal, wohin uns diese ganzen Sorgen führen – schaffen werden, weil wir uns lieben. Aber er braucht zu lange im Bad, und ich schlafe ein, bevor ich die Gelegenheit habe, es ihm zu sagen. Aus irgendeinem Grund bin ich besorgt, dass er es nicht weiß.
FÜNFTES KAPITEL
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Auf dem Weg zur Waschküche bemerke ich hinter den Fitnessgeräten eine Tür, die ich noch nie gesehen habe. Ich bleibe stehen und starre sie an. Wie kann das sein?
»Bob, wo kommt denn diese Tür her?«, rufe ich.
Keine Antwort.
Ich lege eine Hand auf den Türknauf, der – ich schwöre es – nie zuvor da gewesen ist, und halte einen Augenblick inne. Die Stimme meiner Mutter sagt: »Sarah, kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten.«
Ich drehe den Knauf nach rechts.
Eine bedrohliche Alfred-Hitchcock-Film-Stimme sagt: »Nicht.«
Ich muss es wissen.
Ich drücke die Tür auf und stehe auf der Schwelle eines Raums, in dem ich noch nie gewesen bin. In der hinteren Ecke trinkt ein Löwe Wasser aus einem Hummerkorb aus rostfreiem Stahl. Der Raum ist größer als unsere Küche, aber das ist auch schon das Einzige, was mir an ihm auffällt, denn ich bin wie gebannt von dem Löwen – seinen muskulösen Hinterbeinen, seinem unruhigen Schwanz, seinem unerträglichen Gestank. Um nicht zu würgen, halte ich mir Mund und Nase mit meinem Hemd zu.
Es war keine gute Idee, mich zu bewegen. Der Löwe wirft einen Blick über die Schulter, sieht mich, dreht sich genau zu mir um und brüllt. Sein stinkender Atem bläst mir heiß und feucht ins Gesicht. Ich wage es nicht, ihn abzuwischen. Speichel tropft ihm aus dem Maul und sammelt sich in einer beachtlichen Pfütze auf dem Boden. Wir starren uns unverwandt an. Ich versuche, nicht zu blinzeln. Ich versuche, nicht zu atmen.
Bob kommt hereingeschlendert, ein Bündel – etwa so groß wie Linus und in weißes Lebensmittelpapier gewickelt – in der Hand. Er geht an mir vorbei, reißt das Päckchen auf und
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