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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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ein Abendessen kommen und bleiben bis weit nach 20.00 Uhr. Ich versuche, um 18.00 Uhr zu gehen, genau im dichtesten Gedränge der Heimkehr-Parade. Mein früher Aufbruch bleibt nicht unbemerkt, vor allem nicht von den jüngeren, alleinstehenden Beratern, und jeden Abend, wenn ich das Büro verlasse, muss ich dem Drang widerstehen, all jenen mit den missbilligenden Blicken in Erinnerung zu rufen, wie viele Stunden ich jeden Abend von zu Hause arbeite. Ich habe vielleicht meine Schwächen, aber ich bin nicht und werde niemals ein Drückeberger sein.
    Ich gehe »früh«, weil ich hoffe, mich noch rechtzeitig durch den Verkehr zu kämpfen, um für den Nachtisch, das Baden, das Zu-Bett-Bringen und die Gutenachtgeschichten der Kinder um halb acht zu Hause zu sein. Aber jede Minute, die ich jetzt reglos in meinem Acura sitze, ist eine weitere Minute, die ich sie heute nicht sehen werde. Um 18.20 Uhr ist es draußen bereits seit ein paar Stunden dunkel, und es kommt mir noch später vor, als es ist. Es hat zu regnen begonnen, was das Vorwärtskommen erst recht verlangsamt. Vermutlich werde ich den Nachtisch verpassen, aber immerhin geht es überhaupt noch vorwärts, und für das Baden, die Gutenachtgeschichten und das Zu-Bett-Bringen müsste ich es eigentlich nach Hause schaffen.
    Und dann kommt alles zum Stillstand. Es ist 18.30 Uhr. Vor mir leuchten in einer ununterbrochenen Schlange bis zum Horizont rote Bremslichter auf. Irgendjemand muss einen Unfall gehabt haben. Ich bin weit entfernt von einer Ausfahrt, daher kann ich nicht einmal vorher ausscheren und die Nebenstraßen nach Hause nehmen. Ich schalte den Radiosender aus, auf dem sich irgendjemand über irgendetwas beschwert, und lausche auf die Geräusche eines Krankenwagens oder einer Polizeisirene. Ich höre nichts. Es ist 18.37 Uhr. Nichts geht mehr. Ich bin spät dran, sitze fest, und meine kaum noch unterdrückte Anspannung bricht sich Bahn. SCHEISSE! Was ist LOS?
    Ich sehe den Typen in dem BMW neben mir an, als könnte er es vielleicht wissen. Er sieht mich, zuckt die Schultern und schüttelt den Kopf in entnervter Resignation. Er spricht in sein Handy. Vielleicht sollte ich dasselbe tun. Mach das Beste aus dieser Zeit. Ich schnappe mir meinen Laptop und beginne, Berichte von Projektteams zu lesen. Aber ich bin zu gereizt, um produktiv zu sein. Wenn ich arbeiten wollte, wäre ich auf der Arbeit geblieben.
    Es ist 18.35 Uhr. Der Pike liegt noch immer lahm. Ich schicke Bob eine SMS, um ihm Bescheid zu geben. 19.00 Uhr. Badezeit. Ich reibe mir das Gesicht und atme in meine Hände ein und aus. Ich will den Stress aus meinem Körper schreien, aber ich bin besorgt, der Typ in dem BMW könnte mich für verrückt halten und in seinem Telefonat über mich herziehen. Daher beherrsche ich mich. Ich will nur noch zu Hause sein. Ich will nur noch meine Cole-Haan-Stöckelabsätze zusammenschlagen und zu Hause sein.
    Es ist 19.18 Uhr, als ich vor der Pilgrim Lane 22 vorfahre. Vierzehn Meilen in achtundsiebzig Minuten. Der Sieger des Boston-Marathons hätte mich zu Fuß geschlagen. Und genauso fühle ich mich auch: geschlagen. Ich strecke die Hand über die Sonnenklappe und drücke auf den Knopf des Garagenöffners. Eben schon will ich hineinfahren, als ich bemerke, dass das Garagentor nicht aufgegangen ist. Ich trete die Bremsen durch. Durch die verwinkelten Straßen von Boston und über einen verstopften Pike habe ich es ohne einen Kratzer geschafft, aber um ein Haar hätte ich den Wagen in meiner eigenen Auffahrt zu Schrott gefahren. Fluchend drücke ich immer wieder auf den dämlichen Garagentorknopf, bevor ich schließlich aussteige. Während ich durch Pfützen und eisigen Regen von meinem Wagen zur Haustür sprinte, schießt mir die Redensart »der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt« durch den Kopf.
    Ich bete, dass ich es wenigstens rechtzeitig für die Gutenachtgeschichten und -küsse nach Hause geschafft habe.
    Ich liege bei Lucy im Bett und warte darauf, dass sie einschläft. Wenn ich zu früh aufstehe, wird sie um ein weiteres Buch betteln. Ich habe ihr bereits Tacky, der Pinguin und Blues bester Regentag vorgelesen. Ich werde »Nein« sagen, und sie wird »Bitte« sagen und dabei das »i« ein paar Sekunden in die Länge ziehen, um mir zu zeigen, dass sie besonders höflich ist und dass ihre Bitte besonders wichtig ist, und ich werde wieder »Nein« sagen, und im Verlauf dieser beginnenden Auseinandersetzung wird sie wieder putzmunter werden. Es

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