Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
Vom Netzwerk:
wir es auf diesem angespannten Markt nicht verkaufen können? Was, wenn wir die Studiendarlehen, den Autokredit, die Heizungsrechnung nicht mehr bezahlen können? Was, wenn wir es uns nicht mehr leisten können, in Welmont zu bleiben?
    Ich schließe die Augen und sehe das Wort SCHULDEN in Großbuchstaben und mit roter Tinte geschrieben vor mir. Meine Brust schnürt sich zu, und es kommt mir vor, als ob auf einmal keine Luft mehr im Zimmer wäre, mein Laptop auf meinen Knien ist auf einmal unerträglich heiß, und ich schwitze. Hör auf, darüber nachzudenken. Hör auf deinen eigenen Rat. Er schafft das schon. Die Kinder schaffen das schon. Wir alle schaffen das schon . Ein trügerisches Mantra.
    Ich beschließe, ein paar Minuten fernzusehen, um mich von dem schwarzen Loch abzulenken. Anderson Cooper berichtet über eine Mutter in San Diego, die ihr zwei Jahre altes Kleinkind versehentlich acht Stunden lang auf der Rückbank ihres abgesperrten Wagens gelassen hat, während sie auf der Arbeit war. Als die Mutter am Ende des Tages zu ihrem Wagen zurückkam, war ihr Kind an einem Hitzschlag gestorben. Die Behörden prüfen nun, ob sie Anzeige erstatten sollen.
    Was habe ich mir bloß gedacht? CNN ist die Hauptstadt der schwarzen Löcher. Meine Augen füllen sich mit Tränen, während ich an diese Frau und ihr totes Kind denke. Ich stelle mir den Zweijährigen vor, hilflos festgeschnallt mit dem 5-Punkt-Gurt des Autositzes, voller panischer Angst und Verzweiflung bis zum Organversagen. Wie wird diese Mutter sich je verzeihen können? Ich muss an meine eigene Mutter denken.
    »Bob, kannst du bitte umschalten?«
    Er wechselt zu einem lokalen Nachrichtensender. Einer der Moderatoren listet die heutigen Nachrichten auf, die nur noch deprimierender klingen – Banken, die um ihre Rettung betteln, steil ansteigende Arbeitslosenzahlen, die Börse im freien Fall. Im schwarzen Loch: die USA.
    Ich stehe auf und gehe in die Küche, um mir etwas Schokolade und ein großes Glas Wein zu holen.
    Um 23.00 Uhr streichen wir beide die Segel. Noch bevor in Boston die Sonne aufgeht, werden die Berater in den verschiedenen europäischen Büros ihren ersten Espresso des Tages schlürfen und ihre E-Mails mit den morgendlichen Fragen, Sorgen und Berichten an meine Adresse schicken. Ungefähr zur selben Zeit wird Linus aufwachen. Und täglich grüßt das Murmeltier, alles wie gehabt.
    Früher habe ich immer lange gebraucht, um einzuschlafen, zwischen zwanzig Minuten und einer ganzen Stunde. Um mich abzulenken und meine galoppierenden Gedanken zu beruhigen, musste ich immer irgendetwas lesen, das absolut nichts mit meinem Tag zu tun hatte, zum Beispiel einen Roman. Und Bobs Schnarchen hat mich früher fast um den Verstand gebracht. Es grenzt wirklich an ein Wunder, dass er bei seinem ganzen Knurren und Pfeifen selbst durchschlafen kann. Er sagt, er beschützt unsere Höhle vor wilden Tieren. Aber auch wenn ich seine Theorie über den Ursprung des männlichen Schnarchens nachvollziehen kann, glaube ich doch, dass wir als Spezies im Laufe der Evolution diese Notwendigkeit hinter uns gelassen haben – angefangen mit der fest verriegelten Haustür. Aber sein Fred-Feuerstein-Schnarchen lässt sich von der modernen Technik nicht eindämmen. Es gab so manche Nacht, in der ich ihn am liebsten mit meinem Kissen erstickt und den Kampf mit den Löwen, Tigern und Bären selbst aufgenommen hätte.
    Aber nicht mehr. Ungefähr seit Lucys Geburt schlafe ich, keine fünf Minuten nachdem mein Kopf aufs Kissen gefallen ist, tief und fest. Wenn ich etwas zu lesen versuche, komme ich über die Seite, auf der ich beginne, nicht hinaus. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal einen Roman zu Ende gelesen habe. Und wenn ich im Verlauf der Nacht doch einmal in eine Phase etwas leichteren Schlafs komme und Bobs Schnarchen bemerke, rolle ich mich auf die andere Seite und schlummere unbeirrt weiter.
    Die Kehrseite davon sind die Auswirkungen auf unser Liebesleben. Es ist mir peinlich, das zuzugeben, aber ich kann mich nicht mal mehr daran erinnern, wann wir das letzte Mal Sex hatten. Ich mag Sex mit Bob, und ich will noch immer Sex mit Bob haben, aber offenbar mag und will ich es nicht genug, um lange genug wach zu bleiben, damit wir es tun. Wir sind am Ende des Tages beide beschäftigt und erschöpft, ich weiß, aber ich bin nicht zu beschäftigt und erschöpft, um Lucy vorzulesen, E-Mails nach China zu schicken und die Stapel mit Rechnungen

Weitere Kostenlose Bücher