Mehr als nur ein halbes Leben
wirft eine dicke Scheibe blutiges, rohes rotes Fleisch auf den Boden neben dem Löwen. Der Löwe vergisst, dass ich da bin, und stürzt sich darauf.
»Bob, WAS ist hier eigentlich los?«
»Ich gebe dem Löwen sein Abendessen.«
»Wo ist er denn auf einmal hergekommen?«
»Was meinst du damit? Er gehört uns. Er war bei dem Haus mit dabei.«
Ich lache unsicher auf, weil ich denke, das muss die Pointe zu irgendeinem von Bobs seltsamen Witzen sein, breche dann aber ab, als er nicht mitlacht.
Jetzt, wo der Löwe damit beschäftigt ist, etwas anderes zu verschlingen als mich, sehe ich mich in dem Raum um. Die Wände sind getäfelt, der Betonboden ist mit Kiefernspänen übersät, und die Balkendecke ist zwei Stockwerke hoch. Ein gerahmtes Bild von mir und Bob hängt an der Wand. Ich bemerke noch eine Tür in der Wand dem Löwen gegenüber. Sie ist kleiner, etwa halb so hoch wie eine normale Tür.
Ich muss es wissen.
Ich schleiche auf Zehenspitzen an dem Löwen vorbei, öffne die Tür und krieche hinein. Die Tür fällt hinter mir zu und lässt mich in völliger Dunkelheit zurück. Ich kann nichts sehen, nehme aber an, dass sich meine Augen im Laufe der Zeit an die Dunkelheit gewöhnen werden, so wie im Kino. Ich setze mich im Schneidersitz auf den Boden, gegen die Tür gelehnt, blinzele und warte, gespannt darauf, was ich sehen werde.
Ich habe keine Angst.
DONNERSTAG
Bob und ich stehen in Charlies leerem Klassenzimmer, pünktlich, die Hände in den Manteltaschen, und warten auf Ms. Gavin. Jede Zelle meines Körpers sträubt sich dagegen, hier zu sein. Egal, wie lange diese Besprechung dauern wird, ich werde vermutlich zu spät zur Arbeit kommen und kann schon jetzt sehen, wie ich dem ganzen restlichen Tag hinterherhetzen und ihn nie einholen werde. Ich habe das Gefühl, dass bei mir eine scheußliche Erkältung im Anzug ist, und ich habe vergessen, eine Kapsel DayQuil zu schlucken, bevor wir aus dem Haus gestürmt sind. Und eigentlich will ich das, was Ms. Gavin uns zu sagen hat, auch gar nicht hören – was immer es auch sein mag.
Ich vertraue dieser Ms. Gavin nicht. Wer ist sie überhaupt? Vielleicht ist sie eine schreckliche Lehrerin. Ich kann mich vom Informationsabend daran erinnern, dass sie jung ist, in den Zwanzigern. Unerfahren. Vielleicht ist sie überfordert mit ihrem Job und hat mit den Eltern aller Kinder in ihrer Klasse eine solche Besprechung angesetzt. Vielleicht hat sie irgendetwas gegen Kinder, die sie herausfordern. Charlie kann weiß Gott herausfordernd sein. Vielleicht mag sie keine Jungen. Ich hatte einmal eine solche Lehrerin. Mrs. Knight hat immer nur die Mädchen aufgerufen, immer nur den Mädchen Smileys für ihre Schulaufgaben gegeben und immer nur einen der Jungen auf den Flur oder zum Schulleiter geschickt. Nie eins der Mädchen.
Vielleicht ist diese Ms. Gavin das Problem.
Ich sehe mich in dem Zimmer nach Anzeichen um, die meinen begründeten Verdacht erhärten könnten. Anstelle einzelner Schülerpulte, an denen Stühle befestigt sind, wie ich es aus meinen Grundschultagen in Erinnerung habe, stehen in diesem Klassenzimmer vier niedrige, runde Tische mit jeweils fünf Stühlen ringsherum, wie kleine Esstische. Ideal für ein geselliges Beisammensein, würde ich sagen, nicht zum Lernen. Aber meine hübsch lange Liste mit Dingen, die die unfähige und unqualifizierte Ms. Gavin falsch macht, endet mit dieser einen lahmen Beobachtung auch schon.
Kunstprojekte säumen die Wände. Vorne im Raum kleben auf zwei riesigen Plakattafeln ausgedruckte Fotos von Kindern unter den Überschriften Rechtschreibstars und Rechenchampions . Charlies Foto ist auf keiner der beiden zu sehen. Fünf leuchtend bunte, gepolsterte Kindersessel stehen in der sogenannten Leseecke neben einem Regal voller Bücher. Ganz hinten im Raum stehen noch zwei Tische: einer mit einem Hamster im Käfig, der andere mit Fischen in einem Aquarium.
Alles sieht gut organisiert, fröhlich und witzig aus. Ich würde sagen, Ms. Gavin liebt ihren Beruf. Und sie ist gut darin. Ich will wirklich nicht hier sein.
Eben schon will ich Bob fragen, ob er mit mir zusammen türmen will, als sie den Raum betritt.
»Danke, dass Sie gekommen sind. Bitte nehmen Sie Platz.«
Bob und ich setzen uns auf zwei Kinderstühle, nur wenige Zentimeter über dem Boden. Ms. Gavin thront über uns auf ihrem großen Lehrerstuhl hinter ihrem Pult. Wir sind Munchkins, und sie ist der große und mächtige Zauberer von Oz.
»Nun, Charlies
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