Mehr als nur ein halbes Leben
trage meine Lieblings-Christian-Louboutins aus schwarzem Lackleder, zehn Zentimeter hoch, mit offenen Zehen. Ich liebe das Geräusch, das sie beim Gehen machen.
Klack … klack … klack … klack … klack … klack.
Ich überquere die Straße zum Common. Ein hochgewachsener Mann in einem dunklen Anzug überquert sie hinter mir. Ich gehe durch den Common, vorbei an den Baseballfeldern und dem Froschteich. Der Mann ist noch immer hinter mir. Ich beschleunige meine Schritte.
Klack. Klack. Klack. Klack. Klack. Klack.
Er seine auch.
Ich husche rasch an dem Obdachlosen vorbei, der auf der Parkbank schläft, vorbei an der U-Bahn-Station Park Street, vorbei an dem Geschäftstycoon, der in sein Handy spricht, vorbei an dem Drogendealer an der Ecke. Der Mann folgt mir.
Wer ist er? Was will er? Sieh nicht zurück.
Klack, klack, klack, klack, klack, klack.
Ich komme an den Schmuckgeschäften und dem alten Filene’s-Basement-Gebäude vorbei. Ich winde und schlängele mich durch das Einkaufsgewühl und biege links in die nächste Seitenstraße ab. Die Autos und die Menschenmenge sind jetzt verschwunden. Die Straße ist leer bis auf den Mann, der mich verfolgt, noch dichter jetzt. Ich renne.
KLACK! KLACK! KLACK! KLACK! KLACK! KLACK!
Er auch. Er jagt mich.
Ich kann ihn nicht abschütteln. An der Seitenwand des Finanzgebäudes vor mir entdecke ich eine Rettungsleiter! Rettung! Ich renne darauf zu und beginne sie hochzuklettern. Ich höre die Schritte des Mannes auf den Metallstufen als Echo meiner eigenen. Sie kommen näher.
KLING! KLONG! KLING! KLONG! KLING! KLONG!
Im Zickzack klettere ich immer höher und höher. Meine Lungen schreien. Meine Beine brennen.
Sieh nicht zurück. Sieh nicht nach unten. Lauf weiter. Er ist genau hinter dir.
Ich komme oben an. Das Dach ist flach und leer. Ich laufe bis zur hinteren Kante. Sonst kann ich nirgendwohin. Mein Herz hämmert gegen meine Rippen. Ich habe keine Wahl. Ich wende mich zu meinem Angreifer um.
Es ist niemand da. Ich warte. Niemand kommt. Zögernd bewege ich mich zurück zur Rettungsleiter.
Klack. Klack. Klack. Klack. Klack. Klack.
Sie ist nicht da. Ich laufe den Rand des Dachs ab. Die Rettungsleiter ist nicht mehr da. Ich bin auf dem Dach dieses Gebäudes gefangen.
Ich setze mich, um zu verschnaufen, und denke nach. Vom Flughafen Logan sehe ich ein Flugzeug in den Himmel abheben und versuche, mir einen anderen Weg nach unten einfallen zu lassen, als zu springen.
MITTWOCH
Ich bin eine Bostoner Autofahrerin. Verkehrsvorschriften wie Geschwindigkeitsbegrenzungen und »Durchfahrt verboten«-Schilder sind hier eher Empfehlungen als Gesetze. Ich schlängele mich durch die kreuz und quer verlaufenden Einbahnstraßen der Innenstadt, während ich Schlaglöchern und dreisten, unachtsamen Fußgängern ausweiche, jeden Augenblick mit der nächsten Baustellen-Umleitung rechne und mit geübter Waghalsigkeit über jede gelbe Ampel schieße. Alles im Umkreis von vier Blocks. Die nächste Ampel springt auf Grün, und ruck, zuck habe ich die Hand auf der Hupe, als sich der Honda mit dem New-Hampshire-Nummernschild vor mir nicht in Bewegung setzt – so, wie es jeder Bostoner Autofahrer, der etwas auf sich hält, tun würde.
Am Ende des Tages nach Hause zu fahren erfordert unendlich viel mehr Geduld, als morgens in die Stadt zu fahren, und Geduld war sowieso noch nie meine Stärke. Zu beiden Tageszeiten herrscht immer dichter Verkehr, aber die abendliche Rushhour ist noch deutlich schlimmer. Ich weiß auch nicht, warum. Die Sirene heult, die Tore öffnen sich, und wir machen uns alle auf den Weg wie eine Million Picknick-Ameisen, die auf einer von drei Kekskrümelbahnen zusammenströmen – der Route 93 für die, die an der Nord- oder Südküste leben, und dem Mass Pike für Leute wie mich, die westlich von Boston wohnen. Die Bauingenieure, die diese Straßen geplant und entworfen haben, haben sich vermutlich nie so viele Pendler vorgestellt. Und wenn doch, dann möchte ich wetten, sie leben und arbeiten in Worcester.
Ich krieche im Schneckentempo über den Pike, während ich meine Bremsbeläge abnutze und mir schwöre, dass ich demnächst anfangen werde, die U-Bahn zu nehmen. Der einzige Grund, weshalb ich mich diesem tagtäglichen Dahinschwinden meiner Bremsen und meiner geistigen Gesundheit aussetze, ist, dass ich so meine Kinder noch sehen kann, bevor sie ins Bett gehen. Die meisten Leute bei Berkley verlassen nicht vor 19.00 Uhr das Büro, und viele lassen sich
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