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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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Zeugnis muss Sie beide sehr beunruhigt haben. Darf ich Sie zunächst einmal fragen, ob Sie von seinen Noten überrascht waren?«
    »Schockiert«, antwortet Bob.
    »Na ja, sie sind ungefähr so wie letztes Jahr«, entgegne ich.
    Augenblick, auf wessen Seite stehe ich hier eigentlich?
    »Ja, aber letztes Jahr ging es um die Eingewöhnung«, sagt Bob.
    Ms. Gavin nickt, aber nicht, weil sie ihm beipflichtet.
    »Ist Ihnen aufgefallen, ob es ihm schwerfällt, seine Hausaufgaben zu machen?«, fragt Ms. Gavin.
    Abby beginnt nachmittags mit ihm, und Bob und ich machen oft noch nach seiner üblichen Schlafenszeit mit ihm weiter. Eigentlich sollten die Hausaufgaben nicht länger als zwanzig bis dreißig Minuten dauern. Er kämpft, quält sich ab, trödelt, jammert, weint und hasst. Mehr, als er Brokkoli hasst. Wir drohen, bestechen, beschwören, erklären und machen die Aufgaben manchmal einfach für ihn. Ja, ich würde sagen, es fällt ihm schwer.
    Zu seiner Verteidigung muss ich hinzufügen, dass ich in seinem Alter gar keine Hausaufgaben hatte. Ich glaube nicht, dass Kinder – von einigen frühreifen Mädchen einmal abgesehen – mit sieben Jahren alt genug sind, um eigenverantwortlich Hausaufgaben zu machen. Ich glaube, die Schulen üben zu viel akademischen Druck auf unsere kleinen Kinder aus. Andererseits reden wir hier von einer Buchseite mit »ist größer oder kleiner als« oder der Schreibweise von Wörtern wie Mann, kann, dann . Es ist keine Raketenwissenschaft.
    »Das tut es«, sage ich.
    »Es ist brutal«, gesteht Bob.
    »Was erleben Sie denn hier?«, wage ich zu fragen.
    »Er quält sich. Er wird mit keiner der Aufgaben im Unterricht rechtzeitig fertig, er unterbricht mich und die anderen Kinder, und er träumt oft vor sich hin. Ich ertappe ihn jeden Tag vor dem Mittagessen mindestens sechsmal dabei, wie er aus dem Fenster starrt.«
    »Wo ist denn sein Platz?«, frage ich.
    »Dort.«
    Sie zeigt auf den Stuhl, der ihrem Pult am nächsten ist – und zufällig genau am Fenster. Na ja, wer würde sich nicht in Gedanken verlieren, wenn er eine schöne Aussicht hat? Und vielleicht sitzt er neben jemandem, der ihn ablenkt. Einem Störenfried. Einem hübschen Mädchen. Vielleicht habe ich Ms. Gavin doch zu großzügig beurteilt.
    »Könnten Sie ihn vielleicht auf die andere Seite des Klassenzimmers umsetzen?«, frage ich, überzeugt, das ganze Problem gelöst zu haben.
    »Dort hat er in diesem Jahr angefangen. Ich brauche ihn genau vor mir, wenn ich eine Chance haben will, seine Aufmerksamkeit zu behalten.«
    Sie wartet ab, ob ich noch andere schlaue Ideen habe. Ich habe keine.
    »Es fällt ihm schwer, Anweisungen zu befolgen, die mehr als zwei Schritte beinhalten. Wenn ich den Kindern zum Beispiel sage, sie sollen zu ihren Schrankfächern gehen, ihre Mathehefte holen, sich ein Lineal von dem hinteren Tisch nehmen und alles zurück zu ihrem Platz bringen, geht Charlie zu seinem Fach und bringt sein Pausenbrot mit, oder er bringt gar nichts mit und schlendert einfach durchs Klassenzimmer. Erleben Sie so etwas zu Hause auch?«
    »Nein«, antwortet Bob.
    »Was? Das ist Charlie«, widerspreche ich.
    Er sieht mich an, als könne er sich nicht vorstellen, wovon ich rede. Passt er denn überhaupt auf? Ich frage mich, was auf Bobs Zeugnis stehen würde.
    »Charlie, zieh dich an, auch die Schuhe. Charlie, zieh deinen Pyjama an, wirf deine Schmutzwäsche in den Wäschekorb, putz dir die Zähne. Wir könnten genauso gut chinesisch reden.«
    »Ja, aber das sind alles Dinge, die er nicht tun will. Es ist nicht so, dass er sie nicht kann. Alle Kinder versuchen sich vor dem zu drücken, was man ihnen sagt«, versucht Bob es.
    Ich niese und entschuldige mich. Meine verstopften Nasennebenhöhlen bringen mich fast um.
    »Und er benimmt sich nicht gut bei Aktivitäten, bei denen man sich abwechseln muss. Die anderen Kinder scheuen sich oft davor, mit ihm zu spielen, weil er sich nicht an die Regeln halten will. Er ist impulsiv.«
    Jetzt bricht mir das Herz.
    »Ist er denn der Einzige, der so etwas tut?«, fragt Bob, überzeugt davon, dass er es nicht ist.
    »Ja.«
    Bob lässt den Blick über die achtzehn leeren kleinen Stühle schweifen und seufzt in seine Hände.
    »Was wollen Sie uns denn nun eigentlich sagen?«, frage ich.
    »Ich will sagen, dass Charlie unfähig ist, sich auf alle Aspekte des Schultages zu konzentrieren.«
    »Was soll das denn heißen?«, fragt Bob.
    »Das heißt, dass Charlie unfähig ist, sich auf alle Aspekte

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