Mehr als nur ein halbes Leben
des Schultages zu konzentrieren.«
»Weil?«, fordert Bob sie heraus.
»Das kann ich nicht sagen.«
Ms. Gavin starrt uns an und sagt nichts. Ich habe verstanden. Ich sehe die Informationsblätter mit den Vorschriften schon vor mir, abgestempelt und unterzeichnet von den Schulanwälten. Niemand spricht die Worte aus, die wir alle – so meine Vermutung – in diesem Augenblick denken, Ms. Gavin aus rechtlichen Gründen, Bob und ich, weil wir hier von unserem kleinen Charlie sprechen. Meine Mutter würde dieses Gespräch großartig deichseln. Im nächsten Augenblick würde sie darüber reden, was für schönes Wetter wir haben oder wie hübsch Ms. Gavins rosa Bluse ist. Aber ich halte diese unausgesprochene Anspannung nicht aus.
»Glauben Sie, er könnte ADS oder so haben?«
»Ich bin kein Arzt. Das kann ich nicht sagen.«
»Aber Sie glauben es.«
»Das kann ich nicht sagen.«
»Was zum Teufel können Sie denn überhaupt sagen?«, fragt Bob.
Ich lege ihm eine Hand auf den Arm. So kommen wir doch nicht weiter. Bob beißt die Zähne zusammen; er ist vermutlich kurz davor, aus dem Zimmer zu stürmen. Und ich bin kurz davor, Ms. Gavin zu schütteln und zu schreien: »Das ist mein Junge! Sagen Sie mir, was Ihrer Meinung nach mit ihm los ist!« Aber dann setzt sich die Betriebswirtschaftlerin in mir durch und rettet uns alle. Betrachten wir das Problem aus einem anderen Blickwinkel.
»Was können wir tun?«, frage ich.
»Sehen Sie, Charlie ist ein lieber Junge, und eigentlich ist er sehr schlau, aber er bleibt weit zurück, und der Abstand zwischen ihm und den anderen Kindern wird sich noch vergrößern, wenn wir nichts unternehmen. Aber wir können hier nicht schnell genug handeln, solange die Eltern nicht eine Beurteilung in die Wege leiten. Sie müssen sie schriftlich beantragen.«
»Was genau beantragen?«, fragt Bob.
Ich höre mit halbem Ohr zu, während Ms. Gavin die bürokratischen Hürden auf dem Weg zu einem individuellen Förderprogramm beschreibt. Förderunterricht. Ich kann mich erinnern, wie ich, als Charlie geboren wurde, nach allen zehn Fingern und Zehen bei ihm sah, seine feinen rosigen Lippen und die schneckenförmig geschwungenen Ohren betrachtete. Er ist vollkommen, dachte ich, staunend und dankbar für seine Vollkommenheit. Jetzt könnte mein vollkommener Junge eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung haben. Die beiden Gedanken weigern sich, Händchen zu halten.
Kinder werden ihn abstempeln. Seine Lehrer werden ihn abstempeln. Wie hat Ms. Gavin ihn genannt? Impulsiv. Die Kinder werden ihm Schimpfnamen nachrufen, die hässlicher und gemeiner sind als das. Sie werden sie ihm an den Kopf werfen.
»Ich will, dass er von seinem Kinderarzt untersucht wird, bevor wir hier irgendetwas in die Wege leiten«, fordert Bob.
»Ich denke, das ist eine gute Idee«, sagt Ms. Gavin.
Ärzte geben Kindern mit ADS Ritalin. Das ist doch ein Amphetamin, oder? Wir werden unseren siebenjährigen Sohn mit Medikamenten vollpumpen, damit er in der Schule nicht zurückbleibt. Bei dem Gedanken schießt mir das Blut aus dem Gehirn, als ob mein Kreislauf die Idee nicht unterstützen will, und mein Kopf und meine Finger werden taub. Ms. Gavin redet noch immer, aber ihre Stimme klingt gedämpft, als ob sie weit weg wäre. Ich will dieses Problem und seine Lösung nicht.
Ich will Ms. Gavin dafür hassen, dass sie uns diese Dinge gesagt hat. Aber ich sehe die Aufrichtigkeit in ihren Augen, und ich kann sie nicht hassen. Ich weiß, es ist nicht ihre Schuld. Und ich kann Charlie nicht hassen. Es ist auch nicht seine Schuld. Aber ich spüre Hass, er wuchert wild in meiner Brust, und ich muss irgendwohin damit, sonst werde ich mich nur selbst hassen und mir Vorwürfe machen. Ich sehe mich in dem Zimmer nach irgendetwas um – sehe die unschuldigen Gesichter der Kinder auf der »Rechtschreibstar«-Tafel, die gemalten Herzen und Monde und Regenbogen, den Hamster in seinem Laufrad. Der Hass bleibt in meiner Brust gefangen und drückt auf meine Lunge. Ich muss hier raus.
Bob bedankt sich bei Ms. Gavin dafür, dass sie uns informiert hat, und verspricht, dass wir Charlie alle Hilfe zukommen lassen werden, die er braucht. Ich stehe auf und gebe ihr die Hand. Ich glaube, ich lächele sie sogar an, als hätte ich mich gefreut, mit ihr zu reden. Wie lächerlich. Dann bemerke ich ihre Füße.
Im Flur, nachdem Ms. Gavin die Tür zu ihrem Klassenzimmer hinter uns geschlossen hat, nimmt mich Bob in den Arm und fragt mich, ob es
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