Mehr als nur ein halbes Leben
mir gut geht.
»Ich hasse ihre Schuhe«, sage ich.
Verblüfft von meiner Antwort, beschließt Bob, an diesem Punkt nicht weiter nachzuhaken, und wir gehen schweigend weiter zur Turnhalle.
Das Vor-Schulbeginn-Programm ist eben zu Ende, und die Kinder reihen sich auf, um zu ihren Klassenzimmern zu gehen. Nachdem wir Lucy begrüßt und verabschiedet haben, finden Bob und ich Charlie in der Reihe.
»Hey, Kumpel, gib mir fünf!«, sagt Bob.
Charlie schlägt mit einer Hand ein.
»Mach’s gut, Schatz, bis heute Abend. Tu heute, was Ms. Gavin sagt, okay?«, bitte ich ihn.
»Okay, Mom.«
»Ich habe dich lieb«, sage ich und umarme ihn fest.
Die Kinder vor Charlie setzen sich in Bewegung und gehen im Gänsemarsch aus der Turnhalle wie eine einzige lange Raupe. Die Reihe kommt bei Charlie zum Stehen, der sich nicht bewegt.
»Na los, Kumpel, geh schon!«, sagt Bob.
Bleib nicht zurück, mein vollkommener Junge.
SECHSTES KAPITEL
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Rickys Mom, Mrs. Sullivan, sagt uns, dass der Pool noch nicht fertig sei. Mr. Sullivan müsse ihn erst noch auspumpen und rückspülen. Das Wasser ist trübe und mit fauligen braunen Blättern übersät, sodass es eher wie Teich- als wie Poolwasser aussieht. Aber das ist uns egal. Es ist der erste Tag der Sommerferien, und wir wollen nicht auf Mr. Sullivan warten.
Ich finde einen orangefarbenen Schwimmflügel und schiebe ihn über meinen linken Arm bis zu meinem dünnen Bizeps hoch. Ich krame in dem Koffer mit Schwimmwesten und Wasserspielzeug, aber ich kann den anderen Flügel nicht finden. Ich sehe auf, und Nate trägt ihn wie einen Ellbogenschützer.
»Gib her«, fordere ich und streife ihn von seinem Arm.
Normalerweise kriegt er einen Wutanfall, wenn er nicht bekommt, was er will, daher wundere ich mich, dass er ihn mir einfach überlässt. Vielleicht bekomme ich endlich den Respekt, der einer älteren Schwester zusteht. Ich streife mir den orangefarbenen Schwimmflügel über den anderen Arm, und Nate findet eine Tauchermaske und ein Kickboard.
Ich tauche meinen großen Zeh ins Wasser und zucke zurück.
»Es ist EISKALT!«
»Weichei«, sagt Ricky, während er an mir vorbeirennt und sich hineinstürzt.
Ich wünschte, ich könnte so sein wie er, aber das Wasser ist zu kalt.
Deshalb gehe ich zur Terrasse hinauf und setze mich auf den elastischen Plastikstuhl neben Mom. Mom und Mrs. Sullivan haben sich auf gepolsterten Liegestühlen ausgestreckt, mit dem Gesicht zur Sonne. Sie trinken Diätcola aus Dosen, rauchen Marlboro Lights und unterhalten sich mit geschlossenen Augen. Moms Zehennägel sind leuchtend rot lackiert. Ich wünschte, ich könnte so sein wie sie.
Ich streife meine Schwimmflügel ab und rücke meinen Stuhl ebenfalls in die Sonne. Mrs. Sullivan beklagt sich über ihr Arschloch von einem Ehemann, und es ist mir peinlich, sie »Arschloch« sagen zu hören, denn ich weiß, dass es ein Schimpfwort ist und dass ich eine Ohrfeige bekäme, wenn ich es sagen würde. Ich gebe Acht, kein Geräusch zu machen und nicht herumzuzappeln, denn ich glaube, Mom weiß nicht, dass ich zuhöre, und es ist mir peinlich, aber ich will noch mehr verbotene Worte über Mr. Sullivan hören.
Ricky kommt auf die Terrasse, mit klappernden Zähnen.
»Mir ist so kalt.«
»Ich hab’s dir ja gesagt«, sage ich dummerweise, sodass meine Deckung auffliegt.
»Handtücher sind im Bad. Geh und spiel an deinem Atari«, schlägt Mrs. Sullivan vor. »Willst du auch ins Haus gehen, Sarah?«
Ich schüttele den Kopf.
»Sie will bei den Mädchen bleiben. Stimmt’s, Schatz?«, fragt Mom.
Ich nicke. Sie streckt einen Arm aus und tätschelt mein Bein. Ich lächele und komme mir wie etwas ganz Besonderes vor.
Ricky verschwindet ins Haus, Mom und Mrs. Sullivan unterhalten sich, und ich schließe die Augen und höre zu. Aber Mrs. Sullivan sagt nichts Schlechtes mehr über Mr. Sullivan, und mir wird das Zuhören langweilig. Ich denke, vielleicht werde ich ins Haus gehen und Pac-Man spielen, aber vermutlich spielt Ricky Space Invaders, und außerdem will ich zu den Mädchen gehören, also bleibe ich.
Dann schreit Mom plötzlich Nates Namen. Ich schlage die Augen auf, und sie schreit Nates Namen und rennt los. Ich stehe auf, um zu sehen, was los ist. Nate treibt mit dem Gesicht nach unten im Pool. Zuerst denke ich, es ist ein Trick, und ich bewundere ihn dafür, wie er uns einen Streich spielt. Doch dann ist Mom bei ihm im Pool, und er verstellt sich noch immer, und ich finde es gemein von ihm,
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