Mehr als nur ein halbes Leben
über meinem Kopf ist ein Neonlicht, in meinem Mund ist ein Schlauch, der mir beim Atmen hilft, und dann ist da noch die Stimme einer Frau.
»Können Sie meine Hand drücken?«, fragt die Stimme der Frau.
Ich drücke, aber ich spüre keine Hand in meiner Hand.
»Können Sie Ihre andere Hand drücken?«
Ich verstehe die Frage nicht.
»Können Sie mir zwei Finger zeigen?«
Ich spreize meinen Zeige- und meinen Mittelfinger.
Schere.
Ich habe das Knobeln gewonnen. Das Knobeln, der Regen, der Wagen. Der Unfall. Ich erinnere mich. Ich höre ein elektronisches Piepsen und das Surren mechanischer Geräte. Das Neonlicht, der Schlauch, die Stimme der Frau. Ich bin in einem Krankenhaus. Oh mein Gott, was ist mit mir passiert? Ich versuche, an die Zeit nach dem Unfall zu denken, aber ein brennender Schmerz schießt mir durch die Schädeldecke, und ich kann nicht.
»Gut, Sarah. Okay, das reicht für heute. Wir werden Sie jetzt wieder in Schlaf versetzen, damit Sie sich ausruhen können.«
Augenblick! Das Knobeln, der Wagen, der Regen, der Unfall, und dann was? Was ist passiert? Ist alles okay mit mir?
Das Neonlicht an der Decke wird heller. Die Ränder des Lichts lösen sich auf. Alles verschwimmt weiß.
»Okay, Sarah, atmen Sie so tief wie möglich aus.«
Ich atme aus, während mir eine Schwester den Beatmungsschlauch herausreißt, und es fühlt sich an, als ob sie ein mit Schmirgelpapier umwickeltes Spekulum an den empfindlichen Innenseiten meines Halses hochzieht. An ihrer Vorgehensweise ist nichts Behutsames oder Zögerliches. Sie entfernt ihn mir brutal, und die Erleichterung, die ich empfinde, als sie damit fertig ist, grenzt an Euphorie – ein bisschen wie bei einer Geburt. Ich bin drauf und dran, diese Frau zu hassen, aber dann hält sie mir einen Pappbecher mit schmelzenden Eiswürfeln an die Lippen, und sie ist mein Engel des Erbarmens.
Nach einer Minute legt sie meine Hand um den Becher.
»Okay, Sarah, schlürfen Sie weiter. Ich bin gleich wieder da«, sagt sie und lässt mich allein.
Ich schlürfe das kalte Wasser. Meine aufgesprungenen, staubigen Lippen, mein Mund und meine Kehle sind dankbare Schwämme – wie Erde, die nach einer langen Dürrezeit den Regen aufsaugt. Mir ist eben ein Beatmungsschlauch entfernt worden. Ich habe einen Schlauch benötigt, um zu atmen. Das ist nicht gut. Aber jetzt brauche ich keinen mehr. Warum habe ich einen Beatmungsschlauch benötigt? Wie lange bin ich schon hier? Wo ist Bob?
Mein Kopf fühlt sich seltsam an, aber zunächst kann ich das Gefühl nicht identifizieren. Doch dann dämmert es mir, in voller Farbe, bei voll aufgedrehter Lautstärke. Mein Kopf ist glühend heiß. Ich lasse den Becher mit Eis los und berühre meinen Kopf. Ich bin verblüfft und entsetzt von dem geistigen Bild, das durch das entsteht, was meine Finger ertasten. Ein beträchtlicher Teil meiner Kopfhaut – etwa von der Größe und Form einer Scheibe Brot – ist kahl rasiert, und auf dieser kahlen Stelle entdecken meine Finger etwa ein Dutzend Metallklammern. Irgendwo genau unter diesen Klammern hat mein Gehirn die Temperatur von vulkanischem Magma.
Ich greife nach dem Pappbecher und gieße mir das wässerige Eis über meinen mit Klammern bestückten Kopf. Dabei erwarte ich allen Ernstes, das Wasser zischen zu hören, aber das tut es nicht. Das Eis lindert den brennenden Schmerz nicht, und ich habe soeben meine ganzen Eiswürfel verbraucht.
Ich warte und atme ohne die Hilfe eines Schlauchs ein und aus. Keine Panik. Die Schwester hätte dich nicht ohne einen Beatmungsschlauch und mit einem Pappbecher Eis in der Hand allein gelassen, wenn dein Gehirn schmelzen würde. Aber vielleicht schmilzt es doch. Teste mal, ob es noch funktioniert.
Wer bist du? Ich bin Sarah Nickerson. Gut. Du weißt deinen Namen. Mein Mann ist Bob. Ich habe drei Kinder – Charlie, Lucy und Linus. Ich bin Vizepräsidentin der Personalabteilung bei Berkley. Wir leben in Welmont. Ich bin siebenunddreißig Jahre alt. Gut. Sarah, es ist alles okay mit dir. Ich berühre die Klammern und zeichne mit den Fingern die Form der kahlen Stelle nach. Sie rasieren dir nicht den Kopf und stecken dir Metallteile in die Kopfhaut, wenn mit dir alles okay ist .
Wo ist Bob? Jemand sollte Bob sagen, wo ich bin und was passiert ist. Oh Gott, jemand sollte auf der Arbeit Bescheid sagen, wo ich bin und was passiert ist. Wie lange bin ich schon hier? Was ist passiert?
Außer während und nach der Geburt meiner Kinder habe ich nie mehr
Weitere Kostenlose Bücher