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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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anrufen. Der November ist unser wichtigster Rekrutierungsmonat, und wir konkurrieren mit allen anderen Top-Consultingunternehmen – wie McKinsey und der Boston Consulting Group –, um uns die besten und klügsten Köpfe dieses Jahrgangs zu schnappen. Wir ziehen nie so viele Absolventen an Land wie McKinsey, aber die BCG können wir im Allgemeinen schlagen. Nach unserer ersten Runde von einhundertfünfzig Bewerbungsgesprächen bleiben zehn besonders eindrucksvolle Kandidaten, die wir dann versuchen zu werben.
    Ich finde mein Telefon und suche in meiner Kontaktliste nach der Nummer von Harvard. Unter H kann ich sie nicht finden. Das ist seltsam. Vielleicht steht sie unter B wie Business School. Ich schaue auf die Straße, und mir stockt das Herz. Überall leuchten rote Bremslichter auf, verschwommen durch die nasse und beschlagene Windschutzscheibe, reglos wie ein Aquarellbild. Alles auf dem Highway steht still. Alles außer mir. Ich fahre mit siebzig Meilen in der Stunde.
    Ich trete die Bremsen durch. Erst greifen sie auf der Straße, und dann tun sie es nicht. Aquaplaning. Ich drücke ein paarmal hintereinander kurz aufs Bremspedal. Aquaplaning. Ich komme den roten Lichtern auf dem Gemälde immer näher.
    Oh mein Gott.
    Ich reiße das Lenkrad scharf nach links. Zu scharf. Jetzt bin ich von der Überholspur des Highways nach Osten abgekommen, komme zwischen Ost und West ins Schleudern. Ich bin mir sicher, dass sich der Wagen noch immer sehr schnell bewegt, aber ich erlebe dieses Schleudern wie in Zeitlupe. Und irgendjemand hat den Ton abgestellt. Der Regen, die Scheibenwischer, mein Herzschlag … Alles läuft langsam und lautlos ab, als wäre ich unter Wasser.
    Ich trete auf die Bremse und reiße das Lenkrad in die andere Richtung in der Hoffnung, das Schleudern zu korrigieren oder zum Stillstand zu kommen. Die Landschaft gerät in eine unbeherrschbare Schräglage, und der Wagen beginnt zu kippen und sich zu überschlagen. Das Überschlagen läuft ebenfalls langsam und lautlos ab, und meine Gedanken – während ich mich überschlage – sind unbeteiligt und seltsam ruhig.
    Der Airbag geht auf. Mir fällt auf, dass er weiß ist.
    Ich sehe den losen Inhalt meiner Tasche und den Penny, den ich gefunden habe, in der Luft schweben. Dabei muss ich an Astronauten auf dem Mond denken.
    Irgendetwas schnürt mir die Kehle zu.
    Mein Wagen wird schrottreif sein.
    Irgendetwas schlägt gegen meinen Kopf.
    Ich werde zu spät zur Arbeit kommen.
    Dann hört das Überschlagen auf einmal auf, und der Wagen steht still.
    Ich will aus dem Wagen steigen, aber ich kann mich nicht bewegen. Auf einmal verspüre ich einen entsetzlichen und unerträglichen Schmerz oben auf dem Kopf. Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass ich vielleicht mehr als nur meinen Wagen kaputtgefahren habe.
    Es tut mir leid, Bob.
    Der dunkle Morgen wird noch dunkler, bis ich gar nichts mehr sehe. Ich spüre den Schmerz im Kopf nicht mehr. Ich sehe und spüre gar nichts mehr. Ich frage mich, ob ich tot bin.
    Bitte lass mich nicht sterben.
    Ich komme zu dem Schluss, dass ich nicht tot bin, da ich das Geräusch des Regens hören kann, der auf das Dach des Wagens prasselt. Ich bin am Leben, weil ich dem Regen lausche, und der Regen wird zur Hand Gottes, die mit den Fingern auf das Dach trommelt, während Er überlegt, was Er jetzt tun soll.
    Ich lausche angestrengt.
    Lausche weiter.
    Lausche.
    Aber das Geräusch wird schwächer, und der Regen hat aufgehört.

SIEBTES KAPITEL
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    Der verschwommene weiße Klecks über mir wird schärfer, wird zu einem Neonlicht an der Decke. Irgendjemand sagt immer wieder irgendetwas. Während ich die Helligkeit und die Form des Lichts betrachte, begreife ich allmählich, dass irgendjemand immer wieder irgendetwas zu mir sagt.
    »Sarah, können Sie einmal tief Luft holen?«
    Ich nehme an, das kann ich, aber als ich es tue, schließt sich meine ganze Kehle um irgendetwas Hartes, und ich würge. Ich bin sicher, ich habe aufgehört einzuatmen, aber meine Lunge füllt sich trotzdem mit Luft. Meine Kehle ist wie ausgedörrt. Ich will mir die Lippen ablecken und etwas Speichel schlucken, aber irgendetwas in meinem Mund lässt das nicht zu. Ich will fragen: »Was ist da los?«, aber ich kann meinen Atem, meine Lippen und meine Zunge nicht kontrollieren. Panik steigt mir in die Augen.
    »Versuchen Sie nicht, zu sprechen. Sie haben einen Schlauch im Mund, der Ihnen beim Atmen hilft.«
    An der Decke

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