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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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ihr solche Angst einzujagen. Mom dreht ihn um, und ich sehe seine geschlossenen Augen und blauen Lippen. Nun bekomme ich wirklich Angst, und das Herz rutscht mir in die Hose.
    Mom trägt Nate auf den Rasen. Sie macht wilde Geräusche, die ich bei einem Erwachsenen noch nie gehört habe, bläst in Nates Mund und fleht ihn an aufzuwachen, aber Nate liegt einfach nur da. Ich kann nicht mehr mit ansehen, wie Nate auf dem Gras liegt und Mom in Nates Mund bläst, daher sehe ich hinunter auf meine Füße, und mein Blick fällt auf die orangefarbenen Schwimmflügel, die auf der Terrasse neben meinem Stuhl liegen.
    »Wach auf, Nate!«, wimmert Mom.
    Ich kann nicht hinsehen. Ich starre auf meine egoistischen Füße und die orangefarbenen Schwimmflügel.
    »Wach auf, Nate!«
    »Wach auf!«
    »Sarah, wach auf.«
    FREITAG
    »Eins, zwei, dreeii!«
    Meine Finger bilden eine Schere. Bobs Hand ist ein Blatt Papier.
    »Gewonnen!«, brülle ich.
    Ich gewinne sonst nie beim Knobeln. Ich schneide mit den Fingern durch die Luft und tanze eine alberne Gigue, eine Mischung aus den Schritten von Jonathan Papelbon und Elaine Benes. Bob lacht. Aber die Freude über meinen unerwarteten Sieg ist nur von kurzer Dauer. Sie wird mir verdorben durch Charlies Anblick, der jetzt in der Küche steht – ohne seinen Rucksack.
    »Die Wii kann mein Level nicht speichern.«
    »Charlie, was habe ich dir gesagt, dass du tun sollst?«, frage ich.
    Er sieht mich nur an. Meine Stimmbänder spannen sich noch ein bisschen mehr.
    »Ich habe dir vor zwanzig Minuten gesagt, du sollst deinen Rucksack hierherbringen.«
    »Ich musste das nächste Level erreichen.«
    Ich beiße die Zähne zusammen, denn ich weiß, wenn ich den Mund aufmache, werde ich die Beherrschung verlieren. Ich werde ihn anschreien und ihm Angst machen, oder ich werde weinen und Bob Angst machen, oder ich werde toben und die verdammte Wii in den Müll werfen. Bis gestern hat mich Charlies Unfähigkeit, zuzuhören oder auch nur die einfachsten Anweisungen zu befolgen, geärgert, aber auf die typische Art, auf die – denke ich – die meisten Kinder die meisten Eltern ärgern. Jetzt steigt eine Welle von Angst und Frustration in mir auf, und ich muss kämpfen, um sie in Schach zu halten, damit sie nicht überschwappt und uns alle ertränkt. In den wenigen Sekunden, in denen ich angestrengt versuche, still zu bleiben, sehe ich zu, wie Charlies Augen groß und glasig werden. Die Angst und Frustration muss aus meinen Poren strömen. Bob legt mir die Hände auf die Schultern.
    »Ich mache das schon. Fahr du los«, bietet Bob an.
    Ich werfe einen Blick auf die Armbanduhr. Wenn ich jetzt losfahre, kann ich früh, ruhig und geistig gesund auf der Arbeit ankommen. Unterwegs kann ich sogar noch ein paar Telefonate führen. Ich mache den Mund auf und atme einmal tief aus.
    »Danke«, sage ich und drücke seine Blatt-Papier-Hand.
    Dann schnappe ich mir meine Tasche, gebe Bob und den Kindern einen Abschiedskuss und verlasse allein das Haus. Draußen ist es nasskalt, und es regnet stark. Ohne Schirm oder Kapuze sprinte ich wie ein geölter Blitz zu meinem Wagen, aber als ich mich eben auf den Fahrersitz schmeißen will, sehe ich einen Penny auf dem Boden liegen. Ich kann nicht widerstehen. Ich halte inne, hebe ihn auf und ducke mich dann in meinen Wagen. Frierend und durchnässt lächele ich, während ich den Motor anlasse. Ich habe das Knobeln gewonnen und einen Penny gefunden.
    Heute muss mein Glückstag sein.
    Der Regen prasselt nur so herunter und klatscht so schnell gegen die beschlagene Windschutzscheibe, dass die Scheibenwischer kaum mithalten können. Die Scheinwerfer schalten sich ein – ihre Sensoren werden ausgetrickst von dem dunklen Morgen, sodass sie denken, es sei nachts. Auch meinen eigenen Sinnen kommt es vor, als sei Nacht. Es ist die Art von stürmischem Morgen, an dem man sich am liebsten wieder ins Bett verkriechen würde.
    Aber ich werde mir meine gute Laune von dem düsteren Wetter nicht verderben lassen. Ich habe keine Kinder wegzubringen, jede Menge Zeit, und der Verkehr fließt, trotz des Wetters. Ich werde früh und gut organisiert zur Arbeit kommen, bereit, den Tag in Angriff zu nehmen, und nicht zu spät, erschöpft, mit Traubensaft bekleckert und außerstande, irgendeinen albernen Wiggles-Song aus dem Kopf zu bekommen.
    Und auf dem Weg dorthin werde ich schon einmal etwas Arbeit erledigen. Ich krame in meiner Tasche nach meinem Telefon. Ich will die Harvard Business School

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