Mehr als nur ein halbes Leben
aufgegeben, allein wieder aufstehen zu können, und richte nun hundert Prozent meiner Energie und Konzentration darauf, nicht hier auf den Boden zu pinkeln. Gott sei Dank ist meine Blase – oder auf welchen Teil von mir ich mich hier auch immer konzentriere – in der Mitte und nicht irgendwo links. Ich bete darum, nicht niesen zu müssen.
Schließlich stürzt meine Mutter, gefolgt von Martha, ins Zimmer. Meine Mutter sieht panisch und bleich aus. Martha mustert mich, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Na, das war aber impulsiv«, sagt sie.
Ich wüsste ein paar ätzende Dinge, die ich jetzt tun oder sagen könnte, die wirklich impulsiv wären. Aber diese Frau ist für meine Pflege zuständig, und ich muss auf die Toilette, bevor ich hier pinkle, und ich muss wieder auf die Arbeit, bevor ich meinen Job verliere, daher beiße ich mir auf meine blutige Lippe.
»Ich hätte ihr helfen sollen«, meint meine Mutter.
»Nein, das ist nicht Ihr Job. Das ist mein Job. Drücken Sie das nächste Mal auf den Rufknopf. Lassen Sie mich die Therapeutin sein, und seien Sie die Mutter.«
»Okay«, sagt meine Mutter, als hätte sie eben einen Eid abgelegt.
»Seien Sie die Mutter.« Als hätte sie irgendeine Vorstellung davon, was das heißt. »Seien Sie die Mutter.« Auf einmal ärgern und amüsieren mich diese vier Worte und kneifen mich an einer empfindlichen Stelle. Aber vor allem lenken sie mich ab, und ich pinkle den ganzen Boden voll.
ELFTES KAPITEL
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Es ist früh am Morgen, noch gab es kein Frühstück, noch haben die Therapeuten nicht mit ihrer Arbeit an mir begonnen, vermutlich haben sich die Kinder zu Hause noch nicht einmal angezogen. Und Bob ist hier.
»Kannst du mich jetzt sehen?«, fragt Bob.
Ich sehe das Gefängnis, das Fenster, den Besucherstuhl, den Fernseher.
»Nein«, sage ich.
»Dreh den Kopf zur Seite.«
Ich drehe den Kopf zur Seite. Ich sehe das Gefängnis.
»Nein, in die andere Richtung.«
»Es gibt keine andere Richtung.«
»Doch, die gibt es. Dreh den Kopf nach links. Ich stehe hier drüben.«
Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie Bob dasteht. Vor meinem geistigen Auge trägt er ein schwarzes Longsleeve mit Rundhalsausschnitt und Jeans, obwohl er nie Jeans zur Arbeit trägt. Er verschränkt die Arme, und er hat sich nicht rasiert. Ich schlage die Augen auf und drehe den Kopf zur Seite. Ich sehe das Gefängnis.
»Ich kann nicht.«
»Doch, du kannst. Es ist ganz einfach.«
»Das ist es nicht.«
»Ich verstehe nicht, warum du nicht einfach den Kopf zur Seite drehen kannst.«
»Ich habe ihn zur Seite gedreht.«
»Nach links.«
»Es gibt kein Links.«
Ich höre ihn entnervt aufseufzen.
»Schatz, sag mir alles, was du hier drinnen siehst«, fordere ich ihn auf.
»Dich, das Bett, das Fenster, den Stuhl, den Tisch, die Blumen, die Karten, die Fotos von mir und den Kindern, die Toilette, die Tür, den Fernseher.«
»Ist das alles?«
»So ziemlich.«
»Okay, was, wenn ich dir jetzt sagen würde, dass alles, was du siehst, nur die Hälfte von dem ist, was wirklich hier ist? Was, wenn ich dir sagen würde, du sollst den Kopf zur Seite drehen und dir die andere Hälfte ansehen? Wohin würdest du dann gucken?«
Er sagt nichts. Ich warte. Ich stelle mir vor, wie Bob in seinem Longsleeve und seinen Jeans dasteht und sucht.
»Ich weiß nicht«, antwortet er schließlich.
»Eben.«
Ellen tanzt zu den Black Eyed Peas. Sie ist zum Schreien. Weitaus besser als Regis und diese Dingsda. Ich wünschte, ich könnte aufstehen und mit ihr Boogie tanzen, aber nach dem gestrigen Missgeschick auf dem Weg zur Toilette habe ich meine Lektion gelernt.
Bob ist vor einer Stunde zur Arbeit gefahren, und jetzt ist meine Mutter da und hockt neben mir auf »ihrem« Stuhl. Sie trägt einen lavendelfarbenen Fleece-Trainingsanzug und weiße New-Balance-Sneaker. Sie sieht aus, als ob sie im Begriff wäre, joggen zu gehen oder zu einer Aerobicstunde in ein Fitnessstudio zu fahren. Ich bezweifle, dass sie auch nur eins von beidem je getan hat. Dann ertappe ich sie dabei, wie sie mich anstatt Ellen ansieht, und ich komme mir vor, als hätte ich eben Blickkontakt mit einem in die Enge getriebenen Spatz aufgenommen. Sie guckt nach unten und inspiziert ihre Sneakers, verändert ihre Haltung auf dem Stuhl, dreht sich zur Seite, um zu sehen, was draußen vor dem Fenster los ist, verändert ihre Haltung auf dem Stuhl, wirft mir einen scheuen Blick zu, sieht rasch wieder auf den Fernseher und fummelt an ihren
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