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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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dich nicht morgens hierherfahren.«
    »Ich bin selbst gefahren.«
    Baldwin liegt im Auge eines gewaltigen Tornados des öffentlichen Nahverkehrs, schwer zu erreichen, selbst für die kühnsten und geübtesten Bostoner Autofahrer. Dazu die Rushhour. Und meine Mutter.
    »Das hast du getan?«
    »Ich habe die Adresse in diesen Karten-Computer eingetippt und genau das getan, was die Dame mir gesagt hat.«
    »Du bist mit Bobs Wagen gefahren?«
    »Darin sind all die Kindersitze.«
    Ich komme mir vor, als hätte ich eine Besprechung versäumt.
    »Du hast die Kinder zur Schule gefahren?«
    »Damit Bob pünktlich zur Arbeit konnte. Wir haben die Autos getauscht.«
    »Oh.«
    »Ich bin hier, um dir zu helfen.«
    Ich bin noch immer dabei, die Tatsache zu verdauen, dass sie meine Kinder zur Schule und Kindertagesstätte gefahren hat und dann allein zur Rushhour von Welmont nach Boston gefahren ist. Und jetzt muss ich meinem Gehirn schon den nächsten Hammer beibringen. Ich versuche mich daran zu erinnern, wann sie mir das letzte Mal bei irgendetwas geholfen hat. 1984 hat sie mir ein Glas Milch eingeschenkt, glaube ich.
    Sie hält meine linke Hand in ihrer, unsere Finger ineinander verhakt, und ihre Hand fühlt sich vertraut an, selbst nach all der Zeit. Ich bin drei, und meine Hand liegt in ihrer, wenn sie mir beim Treppensteigen hilft, wenn wir Ringel, Ringel, Reihe singen, wenn ich einen Splitter habe. Ihre Hände sind verfügbar, verspielt und geschickt. Nach Nates Tod hielt sie meine Hand zuerst ein bisschen fester. Ich bin sieben, und meine Hand liegt in ihrer, wenn wir die Straße überqueren, wenn sie mich über einen vollen Parkplatz führt, wenn sie mir die Nägel lackiert. Ihre Hände sind selbstbewusst und sicher. Und dann bin ich acht, und meine Hand muss bei dieser ganzen Trauer auf einmal zu schwer zu halten sein, daher lässt sie sie einfach los. Jetzt bin ich siebenunddreißig – und meine Hand liegt in ihrer.
    »Ich muss auf die Toilette«, sage ich.
    »Ich hole Martha.«
    »Nein, nein. Ich schaffe das schon.«
    Jetzt, nach dem Unfall, muss ich erst wieder lernen, allein aufzustehen und zur Toilette zu gehen, daher weiß ich nicht, wieso ich auf einmal glaube, das problemlos zu können. Vielleicht, weil ich das Gefühl habe, normal zu sein, und weil ich pinkeln muss. Ich habe nicht das Gefühl, nur auf eine Hälfte von mir oder eine Hälfte meiner Mutter oder eine Hälfte der Toilette zu achten. Ich habe nicht das Gefühl, dass irgendetwas fehlt. Bis ich diesen ersten Schritt mit dem linken Fuß mache.
    Ich bin mir nicht sicher, wo die Unterseite meines linken Fußes im Verhältnis zum Boden ist. Auch kann ich nicht sagen, ob mein Knie gestreckt oder gebeugt ist. Doch dann denke ich, dass es vielleicht überstreckt ist – und nach einer entsetzlichen, panischen Sekunde mache ich mit dem rechten Fuß einen Schritt nach vorn. Aber mein Schwerpunkt ist mir völlig abhandengekommen, und im nächsten Augenblick krache ich auf den Boden.
    »Sarah!«
    »Nichts passiert.«
    Ich schmecke Blut. Ich muss mir die Lippe aufgeschnitten haben.
    »Oh mein Gott, beweg dich nicht, ich hole Martha!«
    »Hilf mir einfach hoch.«
    Aber sie ist schon zur Tür hinaus.
    Ich liege auf dem kalten Boden und versuche zu überlegen, wie ich wieder hochkommen soll, während ich mir meine verletzte Lippe lecke und denke, dass es vielleicht doch länger als zwei Wochen dauern könnte, bis ich wieder zur Arbeit kann. Ich frage mich, wer die Harvard-Rekrutierung für mich übernimmt. Hoffentlich ist es nicht Carson. Außerdem frage ich mich, wer die alljährlichen Beurteilungen überprüft. Das ist ein Riesenprojekt, das ich genau jetzt in Angriff nehmen sollte. Meine Schultern pochen. Ich frage mich, wofür meine Mutter so lange braucht.
    Seit Linus’ Geburt fällt es mir unglaublich schwer, eine volle Blase zu halten. Zu Bobs großem Ärger kann ich es nicht mehr »halten, bis wir da sind«, und wenn wir länger als eine Stunde mit dem Auto unterwegs sind, muss ich ihn mindestens einmal bitten, kurz irgendwo anzuhalten. Auf der Arbeit trinke ich gut und gern einen halben Liter Kaffee auf einmal, was heißt, dass ich in den letzten zehn Minuten einer einstündigen Besprechung oft unter dem Tisch mit den Füßen auf den Boden klopfe wie eine irische Stepptänzerin, während ich verzweifelt überlege, wie ich in der Sekunde, in der die Besprechung endet, am schnellsten zur nächsten Toilette stürzen kann.
    Inzwischen habe ich jede Hoffnung

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