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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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Gesamtbild reden? Ich habe höhergesteckte Ziele, als mir Regis anzusehen und einen Spaziergang zur Toilette zu unternehmen.
    »Okay, aber was meinen Sie, wann ich wieder normal sein werde?«
    Sie schnappt sich die Fernbedienung, schaltet den Fernseher aus und fixiert mich mit einem strengen Blick, bevor sie antwortet – ungefähr so, wie ich Charlie ansehe, wenn er mir gut zuhören soll.
    »Vielleicht nie.«
    Ich mag diese Frau nicht.
    Meine Mutter hat meinen kleinen Stell-dich-links-von-mir-hin-Trick durchschaut und hockt jetzt auf dem Besucherstuhl zu meiner Rechten wie eine aufgeregte Henne auf einem Nest kostbarer Eier. Obwohl ich jetzt keine medizinische Ausrede mehr habe, versuche ich noch immer, so zu tun, als wäre sie gar nicht hier. Aber sie sitzt genau in meinem Gesichtsfeld, daher ist sie unübersehbar. Und jedes Mal, wenn ich sie angucke, ist da dieser ängstliche Ausdruck in ihrem Gesicht, bei dem ich am liebsten schreien würde. Ich nehme an, es ist die Art von besorgtem Ausdruck, die sich von ganz allein bei jedem abzeichnen würde, der gezwungen wäre, neben mir zu sitzen oder neben dem Typen im Zimmer nebenan mit dem Motorradunfall – dem mit dem entstellten Gesicht und ohne Beine – oder neben der jungen Frau am Ende des Flurs, die nach der Geburt einen Schlaganfall erlitten hat und den Namen ihres neugeborenen Babys nicht sagen kann. Es ist die Art von sorgenvollem Blick – vermischt mit einem Löffel Entsetzen und einem Klecks Grauen –, den jeder haben könnte, der gezwungen wäre, neben einem beliebigen Patienten auf der neurologischen Station zu sitzen. Es kann nicht sein, dass sie wirklich besorgt um mich ist. Sie ist seit dreißig Jahren nicht mehr besorgt um mich gewesen. Daher verstehe ich – auch wenn er mich auf die Palme bringt – ihren Gesichtsausdruck. Was ich nicht verstehe ist, wer sie zwingt, hier zu sitzen.
    Martha kommt herein und stellt eine Schüssel aus rostfreiem Stahl auf mein Tablett.
    »Helen, könnten Sie sich auf die andere Seite von Sarah setzen?«, fragt sie.
    Meine Mutter springt auf und verschwindet. Vielleicht habe ich Martha doch vorschnell verurteilt.
    »Okay, Sarah, legen Sie sich auf den Rücken, los geht’s. Sind Sie so weit?«, fragt sie.
    Aber noch bevor ich meine Zustimmung zu dem geben kann, was wir im Begriff sind zu tun, legt sie mir schon ihre kräftigen Hände um das Gesicht und dreht meinen Kopf zur Seite. Und da ist meine Mutter wieder. Diese verdammte Frau.
    »Hier ist ein Waschlappen. Wischen Sie ihr damit über den Arm, und reiben Sie ihre Hand ab, alle Finger.«
    »Soll ich ihren anderen Arm auch waschen?«
    »Nein, es geht nicht darum, sie zu säubern. Wir versuchen, ihrem Gehirn in Erinnerung zu rufen, dass sie einen linken Arm hat, und zwar durch die Struktur des Lappens, durch die Temperatur des Wassers und dadurch, dass sie ihren Arm ansieht, während das geschieht. Ihr Kopf wird sich wieder zu dieser Seite hier drehen wollen. Drehen Sie ihn dann einfach wieder nach links, so, wie ich es eben getan habe. Okay?«
    Meine Mutter nickt.
    »Gut«, sagt Martha und verlässt uns eilig.
    Also wringt meine Mutter den Lappen über der Schüssel aus und beginnt, meinen Arm abzuwischen. Ich spüre es. Der Lappen ist rau und das Wasser lauwarm. Ich sehe meinen Unterarm, mein Handgelenk und meine Hand, während sie jeden Körperteil berührt. Und obwohl ich spüre, dass das mit mir geschieht, ist es fast, als würde ich meiner Mutter dabei zusehen, wie sie jemand anderem den Arm wäscht. Es ist, als würde der Lappen auf meiner Haut meinem Gehirn sagen: Spürst du das? Das ist deine linke Schulter. Spürst du das? Das ist dein linker Ellenbogen . Aber ein anderer Teil meines Gehirns – hochnäsig und entschlossen, das letzte Wort zu behalten – hält ständig dagegen: Ignoriere diesen Unsinn! Du hast gar nichts Linkes! Es gibt kein Links!
    »Wie fühlt sich das an?«, fragt meine Mutter nach ein paar Minuten.
    »Es ist ein bisschen kalt.«
    »Entschuldige, okay, Augenblick, beweg dich nicht.«
    Sie springt auf und huscht ins Bad. Ich starre auf das Gefängnis, während ich mit offenen Augen träume. Ich frage mich, ob sie mir auch warmes Wasser holen würde, wenn ich dort drüben wäre. Ohne Vorwarnung sind ihre Hände plötzlich auf meinem Gesicht, und sie dreht meinen Kopf zur Seite. Sie beginnt wieder, meinen Arm zu reiben. Das Wasser ist zu heiß.
    »Weißt du«, sage ich, »Bob muss wirklich pünktlich zur Arbeit kommen. Er sollte

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