Mehr als nur ein halbes Leben
Kopf. Oh mein Gott, oh mein Gott …«
»Helen, es wird ihr wieder gut gehen«, verspricht Bob.
Jetzt schluchzt sie. Das brauche ich wirklich nicht.
»Mom, bitte«, sage ich. »Geh und stell dich ans Fenster.«
ZEHNTES KAPITEL
----
Auf der neurologischen Station des Baldwin-Rehazentrums gibt es vierzig Betten. Das weiß ich, weil nur zwei der vierzig Betten in Privatzimmern sind und die Versicherung dafür nicht aufkommt. Privatsphäre muss man aus der eigenen Tasche bezahlen.
Bob hat dafür gesorgt, dass ich eines der Einzelzimmer bekommen habe, mit einem Fenster auf der rechten Seite des Betts. Wir nahmen beide an, eine Aussicht auf das Leben jenseits der Grenzen meines Zimmers würde mir Auftrieb geben. Uns war nicht bewusst, dass diese einfache Anfrage präziser hätte formuliert werden müssen.
An diesem sonnigen Tag starre ich aus dem Fenster auf ein Gefängnis. Meine Aussicht besteht aus nichts als Backsteinen und stählernen Gitterstäben. Die Ironie entgeht mir nicht. Offenbar haben die Patienten auf der anderen Seite der neurologischen Station eine Aussicht auf die Leonard Zakim Bridge, die tagsüber eine umwerfende architektonische Leistung und nachts ein atemberaubendes angestrahltes Meisterwerk ist. Natürlich sind all diese Zimmer Doppelzimmer. Alles hat seinen Preis. Pass auf, worum du bittest. Ich bin ein hirnverletztes Klischee.
Was auch immer ich hier tun muss, ich bin bereit dafür. Hart arbeiten, meine Hausaufgaben machen, eine Eins bekommen, wieder nach Hause zu Bob und den Kindern kommen, wieder zur Arbeit. Wieder zurück zur Normalität. Ich bin entschlossen, wieder hundertprozentig gesund zu werden. Hundert Prozent ist schon immer mein Ziel bei allem, es sei denn, es wird noch mehr von mir erwartet, dann schieße ich auch darüber hinaus. Gott sei Dank bin ich eine ehrgeizige Typ-A-Perfektionistin. Ich bin überzeugt davon, dass ich die beste Patientin mit einem Schädel-Hirn-Trauma sein werde, die Baldwin je gesehen hat. Aber man wird mich hier nicht sehr lange sehen, denn ich habe auch vor, schneller gesund zu werden, als es irgendjemand hier erwarten würde. Ich frage mich, was der Rekord ist.
Aber jedes Mal, wenn ich versuche, eine konkrete Vorstellung davon zu bekommen, wie lange es für jemanden mit einem linksseitigen Neglect dauern könnte, vollständig gesund zu werden, bekomme ich nur eine unbestimmte und unbefriedigende Antwort.
»Das schwankt sehr«, sagte Dr. Kwon.
»Was ist denn die durchschnittliche Dauer?«, fragte ich.
»Das wissen wir eigentlich nicht.«
»Hm. Okay, na ja, von welchem zeitlichen Rahmen reden wir denn?«
»Manche werden spontan innerhalb weniger Wochen gesund, manche sprechen auf die Behandlungsmethoden und Rehaübungen nach sechs Monaten an, manche etwas später.«
»Und an was erkennt man, wer in zwei Wochen und wer erst später gesund werden wird?«
»Das wissen wir nicht.«
Ich bin noch immer verblüfft davon, wie wenig die Ärzte über meinen Zustand wissen. Ich nehme an, deswegen nennt man es die medizinische Praxis .
Es ist jetzt 9.15 Uhr, und ich sehe mir Regis und irgendeine Frau an. Früher war es Regis und irgendeine andere Frau. An ihren Namen kann ich mich nicht erinnern. Es ist lange her, dass ich morgens ferngesehen habe. Martha, meine Physiotherapeutin, ist eben hereingekommen und hat sich vorgestellt. Sie hat strähniges blondes Haar, das zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden ist, und vier Diamant-Ohrstecker, die sich auf ihrem Ohrläppchen knubbeln. Gebaut ist sie wie ein Rugbyspieler. Sie sieht nüchtern aus, hart. Gut. Packen wir’s an.
»Und, was meinen Sie, wann ich wieder zur Arbeit kann?«, frage ich, während sie mein Krankenblatt liest.
»Was machen Sie beruflich?«
»Ich bin Vizepräsidentin der Personalabteilung bei einem Consultingunternehmen.«
Sie lacht mit geschlossenem Mund und schüttelt den Kopf. »Konzentrieren wir uns darauf, dass Sie wieder laufen und die Toilette benutzen können.«
»Meinen Sie, in zwei Wochen?«, versuche ich es.
Sie lacht und schüttelt wieder den Kopf. Dann sieht sie lange und gebannt auf meinen kahlen Kopf.
»Ich glaube, Sie verstehen nicht ganz, was mit Ihnen passiert ist«, sagt sie.
Ich starre lange und gebannt auf ihr Ohr.
»Und ob ich das verstehe. Ich verstehe genau, was bereits passiert ist . Was ich nicht verstehe ist, was passieren wird .«
»Heute werden wir versuchen, zu sitzen und zu laufen.«
Du lieber Gott, können wir bitte über das
Weitere Kostenlose Bücher